Vergessene Frau Vergessenes Kind Drecksmutter Die Hölle von Bossenborn Nachts wenn die Lämmer schreien Mein fremdes kind Classic Star u.v.m

Mit Franzy erkämpfte ich mir den Durchbruch. Dass sie in mein Leben purzelte, sollte wohl so sein. Wir sind mittlerweile so etwas wie Schwestern geworden und die Bücher Vergessenes Kind & Vergessene Frau brachten uns beiden tausende von Euros ein. Geld, das ein Autor mit einem Verlag im Rücken erst einmal verdienen muss ...


Die ersten Bücher verkauften wir 5000 mal in nur drei Wochen zum Preis von Null Euro! Bei BOD downloadeten wir das Buch und stellten es zum Nulltarif ein. Der Verlag kündigte nach einer Buchprüfung den Vertrag mit uns. Solch ein schwerwiegendes, pornografisches Manuskript wolle er in seinem Haus nicht veröffentlichen! Für Franzy brach eine Welt zusammen. Sie wollte mit ihrer Geschichte unbedingt nach draußen, sich all den Kummer von der Seele schreiben. Bei Amazon starteten wir einen neuen Versuch und das Buch landete für mehr als 8 Monate lang auf dem Nummer Eins Ranking in Frauenbiografien!

 

Mittlerweile lachen wir beide über schlechte Rezensionen. Mehr als 80.000 verkaufte Bücher sprechen für sich! Als ich anfing mit der Schreiberei, konnte ich mir noch kein Lektorat leisten, welches je nachdem, wie es aufgezogen ist, mehrere hundert Euro kostet. Heute ist das dank Euch, unserer (meiner) Leser, kein Problem mehr!

mehr lesen

 

Es hört erst auf wehzutun, wenn der schmerz dich etwas gelehrt hat

Meine Tiere sind meine wichtigste Lebensaufgabe!

Tiere waren mir immer die besseren Freunde!

Sie sind meine Familie, allein deshalb, weil ich nie wirklich in einer liebevollen aufwachsen durfte...

Für meine Familie gehe ich durchs Feuer.

 

Solange ich lebe!

mehr lesen

 

Bastardkind

Niemand gibt uns eine Chance, doch wir können siegen. Wir sind dann Helden.
Für einen Tag.

David Bowie


 

Bastard
Kind

Anais C. Miller

Eine Geschichte über Missbrauch


 

Bastardkind

1.) Auflage

(Deutsche Erstausgabe)

Copyright 2024 dieser Ausgabe

bei Anais C. Miller

Umschlaggestaltung unter Verwendung

einer Illustration von Pixabay

Lektorat/Korrektorat
Susi Swazyena

Coverumschlag
Jörg Piesker nach einer Illustration von

Pixabay und Despositfotos

Email J-piekenbrock@t-online.de


 

Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist nur eine besonders hartnäckige Illusion

Albert Einstein


 

Inhaltsverzeichnis

Zum Buch
Gedanken des kleinen Mädchens
Gedanken einer werdenden Mutter
Mein Name ist Sonja
Luxusmädchen
Palast der Tränen
Die überforderten Eltern
Abgründe
Die Entscheidung
5 Jahre später
Elvira
Papas Freundin
Ein leeres Haus
Es war Sommer
Sex
Ein neues Leben
Das Böse in ihm
Die Hündin
Kein Wunder
Allein
Sonja
Die neue Wohnung
Heroes


 

Was sie in ihr Tagebuch schrieb, war ein Gespinst aus seltsamen Worten. Man konnte den Sinn nicht verstehen, aber man konnte es fühlen. Sie wünschte sich wohl das Herz eines Adlers. Jedenfalls wollte sie genauso so frei sein.
Aber es war wie in einem schlechten Traum:
    Sie wollte fliegen und konnte es nicht.

Zum Buch

Sechs Jahre lang gelang es Mutter, meine Identität geheim zu halten. Sechs Jahre lang gab es mich nicht.
Nicht einmal im Stammbuch unserer Familie hatte man meinen Namen eingetragen.
Eine Geburtsurkunde suche ich bis heute vergebens.
Auf die Frage, warum meine Mutter ihr einziges Kind, das sie neun Monate lang unter dem Herzen trug, nach der Geburt vor Freunden und der Familie versteckte, es behandelte wie einen nichtpassenden Pullover, den man achtlos in den Kleiderschrank wirft und nie wieder hervorholt, gibt es nicht nur eine Antwort, sondern erschreckend viele …

Die Kindheit meiner Mutter wurde geprägt von Gewalt und Missbrauch. Wie durch ein Wunder schaffte sie es, dem Sumpf zu entkommen. Allerdings war der Preis, den sie für ihre Freiheit bezahlte, unfassbar hoch.

Der Inhalt könnte auf zartbesaitete Leser verstörend wirken!
Mögliche Triggerpunkte: Gewalt und Missbrauch!

Für Leser unter 18 Jahren ist dieser Roman nicht geeignet.


 

Die Stille hat keine Meinung.
Was wir fürchten ist die Macht unseres Friedens.


 

Gedanken des kleinen Mädchens

„Ich weiß nicht mehr, wie oft ich den Duden in die Hand nahm, als ich endlich Lesen und Schreiben konnte.
Wie viele Male ich das Wort Bastard nachschlug, um die Bedeutung des grässlichen Ausrufes „Du Bastard“, zu verstehen. Die Bezeichnung minderwertig empfundener Mensch    stimmte mich unendlich traurig.“

(Sonja)


 

Gedanken einer werdenden Mutter

Ich sehe mich im Spiegel an und sehe nichts.
Außer diesem riesigen, hässlichen Bauch, der nicht zu mir gehören will und vor dessen Inhalt ich mich fürchte.
Ich will die Welt so fühlen, wie ich sie sah, um all die Sommer einzuatmen, die die Wahrheit für mich waren, bis zu jenem verhängnisvollen Tag, an dem der Himmel schwarzen Regen aufs Land schickte.
Ich will noch einmal das berühren, was ich gewesen bin, als mich niemand angesehen hat.
Ich wünsche mir die kindliche Unschuld zurück, mit der ich mein unbeschwertes Dasein beherrschte. Ich schaue zurück und sehe mein Leben, verblasse selbst in den herrlichsten Farben des Herbstes und bin der Schatten eines bedeutungslosen, toten Baumes.

(Samira)


 

Mein Name ist Sonja.

Meine Mutter brachte mich vor 25 Jahren anonym zur Welt. Sechs Jahre lang lebte ich in einer verdreckten und zugemüllten Wohnung. Wuchs inmitten mütterlicher Lieblosigkeit, Überforderung, Abfallresten und Unrat auf, ohne dass ein Sonnenstrahl mein Gesicht kitzelte oder Regentropfen auf mein Haar fielen.
Nach meiner Befreiung begab ich mich Jahre später auf die mühsame Suche der Spuren und Wurzeln meiner Vergangenheit.
Meine Geschichte möchte ich beginnend ab der Kindheit meiner Mutter erzählen, die anhand ihrer Tagebucheinträge von mir rekonstruiert wurde.

Für diejenigen, denen es generell am Glauben mangelt: Niemand wird gezwungen, weiterzulesen.
Menschen glauben ohnehin nur das, was sie glauben wollen.

Vielleicht war meine Geschichte und die meiner Mutter gar nicht so schlimm, wie sie erzählt wird, vielleicht aber war sie noch viel schlimmer ...

Dieses Buch hilft niemandem.
Es soll aufzeigen, wie schlecht Menschen sind, wenn sie es sein wollen. Voyeuristische Unterhaltung zu vermeiden, kann selbst mit Schönreden des Missbrauchs nicht vermieden werden, was ohnehin fatal wäre.
Es passiert überall.
Tagtäglich. Die meisten Menschen sehen weg und nur deshalb werden diese Taten niemals enden…

Luxusmädchen

Ein letztes Mal, bevor ich den Ort meiner Hölle verlasse, möchte ich den Blick durch mein Zimmer schweifen lassen. Wie vertraut und dennoch beängstigend fremd mir alles geworden ist. Überall finden sich Erinnerungen freudiger, aber auch grausamer Ereignisse meines Lebens.
Die eingerahmten Fotos fallen mir aufdringlich ins Auge. Teure Rahmen mit billigen Aufnahmen dahinter, wollen schönredend von schäbigen Erlebnissen erzählen, die meine Seele aufwühlen.
Genau wie vor Monaten noch, stehen sie im Regal über meinem Bett. Sortiert, in Reih und Glied, sogar der Größe nach von Mama geordnet, nur eingestaubt und mittlerweile verblasst. Seit sie fortging, machte niemand mehr sauber in meinem Zimmer. Die Fotos erzählen aus Zeiten einer für den Betrachter unbeschwerten Kindheit, doch der Schein trügt und zwar verräterisch.
    Da gibt es die Erinnerungen meiner Einschulung, die der Erstkommunion und einige eher spärliche Urlaubsbilder, auf denen ich zusammen mit meinen Eltern abgelichtet bin.
Ich lächele, Mama und Papa lächeln auch, aber das Lachen kommt nicht von Herzen. Jeder von uns grinst auf seine verlogene Art und Weise in die Kamera. Macht gute Miene zum bösen Spiel und zeigt Zähne, weil derjenige, der den Auslöser betätigte, „Cheese“ rief.
Mir war am Tag meiner Kommunion eher zum Heulen als zum Lachen zumute, doch ich riss mich am Riemen. Papas Hand hielt meine und in dem Augenblick als niemand hinsah, löste sie sich aus dem Griff und legte sich an den Bund meines Röckchens.
    Ein zärtliches Kribbeln überkommt mich, das sich sanft an meine Seele schmiegen möchte, während ich den Luxus betrachte. Vom Computer über die Spielekonsole und den riesigen Fernseher gibt es nichts, das mir in meiner Kindheit gefehlt hätte. Mein Vater las mir jeden Wunsch von den Augen ab. Einen Lastwagen mit Spielsachen randvoll beladen, hätte er mir vorbeigeschickt, wenn ich danach verlangt hätte. Ein leises Gefühl von Heimat überfällt mich beim Betrachten der Bilder und meiner Spielsachen. Alles hier schaut nach Liebe aus.
Zu den Zeugen meiner Kindheit gehören neben den Fotos und Spielsachen auch unzählige Kuscheltiere.
    Teddybären und Puppen sitzen im Regal, auf meinem Bett, auf der Couch, sie zieren mein Kopfkissen und sind überall dort, wo ich nicht länger sein möchte: Im Kinderzimmer im Haus meiner Eltern! Jener Ort eines langen und grausamen Martyriums.
    Meinen Lieblingsbären würde ich jetzt gern in den Arm nehmen. Meinen Kummer in sein zotteliges Fell rotzen, doch ich bin zu alt für diese Kuschelspielchen und außerdem ekelt es mich, dass an ihm klebrige Spermareste zu finden sind.
    Ich hatte ihn in den Müll geworfen, den Teddy, weil ich ihn nicht länger sehen wollte. Ständig wurde ich an den Tag erinnert, an dem sich meine glückliche Kindheit in Verzweiflung, Wut und Trauer verwandelte. Ich weiß noch genau, wie erschrocken ich war, als ich abends zu Bett ging und das Stofftier wieder an Ort und Stelle neben meinem Kopfkissen saß. Zunächst dachte ich an Zauberei, an Kobolde oder Hexen, heute kenne ich die bittere Wahrheit.
    Der Schaukelstuhl, mein einstiger Lieblingsplatz, lädt zum Tagträumen und Verweilen ein. Der massive Schreibtisch neben dem Panoramafenster, er ruft nach mir.
Im Laufe der Jahre wurden die Geschichten, die ich an dem hölzernen Pult verfasste, größer und größer.
Mein Puls beschleunigt zuverlässig, sobald ich an die grauenvollen Erlebnisse denke, die ich mir später in meinem Kinderzimmer, in meinem Tagebuch von der Seele schrieb. Aber auch meine tiefsten Geheimnisse über Liebe und Freundschaft, handschriftlich verfasst, lassen sich hier wiederfinden.
    Meine Hände zittern während ich den Schreibtisch hochklappe. Unter dem schweren Deckel finden sich meine linierten Heftchen. Von außen sehen sie aus wie Schulhefte. Unauffällig und unscheinbar. Harmlos und nichtssagend. Zur Tarnung habe ich sie sogar mit den Aufschriften Mathe, Deutsch und Englisch beschriftet. Freiwillig hätte mein Vater sie niemals zur Hand genommen. Wenn er wüsste, wie viele Seiten ihm gehören, würde er mich vermutlich totschlagen.
Ein eisiger Schauer überfällt mich hinterrücks. Energisch klappe ich den Sekretär zu. Ich will das hier alles nicht mehr. Ich will es nicht mehr sehen, nicht mehr riechen und mich auch nicht mehr erinnern. Es ist der Verstand, der mich zum Gehen zwingt, auch wenn das Herz schreit:
    „Bleib! Bleib hier! Geh nicht! Hier ist alles, was du brauchst, was du kennst und wonach sich deine Seele sehnt!“ Selbstverletzend und bemitleidend, stoße ich das vertraute Gefühl von mir. Seit Jahren betrügt es mich und das zuverlässig. Hier in meinem Zimmer findet sich alles, was mit Geld zu bezahlen ist, nichts jedoch erinnert an Glück und Freude.
Materielle Dinge im Überfluss, lassen sich mit Liebe nicht gleichstellen. Eine bittere Erfahrung, die für mich als Kind lehrreicher nicht hätte sein können. Die wenigen Freunde, die meine Welt betreten durften, staunten stets über die Vielfalt meiner Spielsachen und über den Luxus, in dem ich mich wie ein dreckiges, unglückliches Schweinchen fühlte, dass sich nur in dem dreckigen Reichtum suhlte, jedoch nicht wohlfühlte.
    Mehr als unzufrieden fühlte ich mich in meinem Glashaus, das meine Eltern für mich geschaffen hatten.
All den Glitzer bejubelten meine Freundinnen und ich gehörte für sie zu den ganz Großen in ihrem Bekanntenkreis. Dankbar leuchteten ihre Augen, wenn ich ihnen das, was ihr Herz begehrte, schenkte, weil mich materielle Dinge nicht glücklich machten. Fahrräder, Gesellschaftsspiele, Inliner, Kleidung, alles gab ich an die Mädchen weiter, die mich eine kurze Wegstrecke seit jüngster Kindheit auf an, begleiteten.
Dankbar war ich ihnen für Freundschaft und Nähe, doch da gab es immer dieses grässliche Gefühl in meinem Herzen, dass mir einredete, ich müsse für Freundschaft bezahlen, weil sonst niemand mit mir spielen werde.
Mich besuchten Kinder aus Familien, in denen Herzlichkeit, Wärme und Liebe dem finanziellen Status meiner Eltern vorherrschten. Küsschen hier, Küsschen dort, wenn sich meine Freundin von ihrer Mutter, die sei bei uns daheim an einigen Nachmittagen zum Spielen absetzte, verabschiedete.
    Gesten, die ich nicht kannte. Mich küsste niemand zum Abschied. Ich wurde ins Auto eingeladen und mit den Worten: „Gegen sieben hole ich dich wieder ab, sei also bitte pünktlich!“, wieder ausgeladen.
    „Hab‘ dich lieb, mein Schatz!“, rief Alexandras Mutter aus der geöffneten Fensterscheibe des alten, klapprigen VW Polo, nachdem sie ihre Tochter bei uns abgesetzt hatte. Mein Vater nannte meine Freunde und deren Eltern herablassend gerne mal: „Asoziales Pack oder Krümelfresser! Such dir gefälligst Freunde, deren Eltern was auf die Beine stellen und nicht solche elendigen Sozialschmarotzer, die von Hartz IV und aus unserem Portemonnaie leben!“ Mir taten seine abfälligen Worte weh. Sehr sogar und das, obwohl ich sie als kleines Kind nicht mal richtig verstanden habe.
    Mein Vater selektierte meinen kompletten Bekanntenkreis nach Status, Rang und Namen.
Mir war, als führte er Buch über jeden einzelnen meiner Freunde und deren Eltern.
Er bestimmte, wen ich empfangen durfte und wen nicht. Die Tochter des Bürgermeisters durfte zu mir zum Spielen kommen und die Tochter des Tierarztes war ebenfalls willkommen und gern gesehen.
Beide mochte ich nicht sonderlich gut leiden, aber das spielte für meinen Vater keine Rolle.
Der Status stimmte, also waren sie die perfekten Spielkameraden für mich. Maria, die Tochter vom Pferdedoktor, stank fürchterlich nach Jauche, und Mia, die Tochter des Beisitzenden aus dem Stadtrat, ging mir mit ihrer ewigen Besserwisserei gehörig auf den Sender.
So sehr, dass mir die Hand ausrutschte und ich ihr eine schallerte. Auf alles musste sie das letzte Wort haben, diese neunmalkluge, blöde Kuh, da war es passiert. Natürlich durfte Mia nie wieder zu uns kommen. Zum Leidwesen meines Vaters, denn der verlor den guten Kontakt und seine geschäftlichen Beziehungen zu Mias Eltern, die meine Familie seit dem Tag, an dem ich ausrastete, hassten und mieden.
Alexandras Mutter war alleinerziehend, somit fiel ihre Tochter aus dem Raster der Auserwählten potentieller Spielkameraden meines Vaters. Da sie einer geregelten Arbeit nachging, zeigte er sich jedoch gnädig und ich durfte das Mädchen ausnahmsweise zu uns nachhause einladen.
Alexandras Vater war dafür bekannt, dass er der Arbeit lieber fernblieb und auf Kosten der Steuerzahler, den Tag über, faulenzend auf der Straße rumlungerte.
    „Eine Schande für die ganze Nachbarschaft!“, nannte Mama das Drama der Ehrmanns.
Derartige Familienhistorien waren meinem Vater stets ein Dorn im Auge. Fürchterlich schimpfen konnte er über diese Sorte Menschen, die für ihn nichts als Abschaum waren.
    „Wichser! Hurensöhne!“, fluchte er.
    Des Öfteren zeigte er sich nervlich am Anschlag.
Das brachte wahrscheinlich sein anstrengender Job mit sich. Mit Leidenschaft vergriff er sich im Vokabular obszöner Ausdrücke, wobei er außerhalb der vier Wände in denen er sich austobte, immer der gesellschaftlichen Erwartungshaltung entsprach. Dementsprechend wusste er sich zu artikulieren.
Meine Freundin Alexandra besaß zu Hause keinerlei Luxus.
Nicht mal ein Schreibtisch befand sich in ihrem karg eingerichteten Zimmer, an dem sie hätte die Hausaufgaben erledigen können. Ihr Bett sah aus wie eine Palette vom Sperrmüll. Aber, es machte mir nichts. Ich mochte das Mädchen mit den roten Haaren sehr. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, ich müsste sie beschützen vor den anderen Kindern, die sie ab und zu wegen der Haarfarbe hänselten.
    „Gefällt es dir bei mir?“, fragte sie.
    „Ja, sehr gut!“, log ich. Es war eine Notlüge. Ich wollte sie nicht verletzen. Ihr Zimmer gefiel mir überhaupt nicht, alles in ihm war kalt und nur auf das Notwendigste beschränkt, eingerichtet, aber der Goldfisch in ihrem Miniaquarium, der hatte es mir angetan.
    „Fische darf man nicht alleine halten. Der müsste zu uns nachhause in den Gartenteich umziehen! Darin tummeln sich viele seiner Freunde!“, sagte ich überheblich. Im selben Augenblick tat es mir wieder leid.
    „Ich meine ja nur“, stammelte ich.
    „Du hast ja recht. Er ist wirklich alleine. Aber einen zweiten Goldfisch wird mir meine Mutter nicht kaufen. Das Aquarium sei zu klein“, sagt sie.
Alexandra und ich, wir verbündeten uns. Wir schlossen einen tollen Deal. Fridolin der Goldfisch, sollte ab sofort in die Freiheit entlassen werden und zu uns nachhause in den Gartenteich umziehen. Wir machten ein prima Tauschgeschäft: Goldfisch gegen meine neue Skiausrüstung!
    Mein Herz hopst einen kleinen Freudensprung, wenn ich mich an die Entführung des Zierfisches erinnere.
Mit einer mit Wasser gefüllten Plastiktüte und dem Goldfisch darin, liefen wir heimlich von Alexandras Wohnung zur Villa meiner Eltern. Juchend entließen wir den Fisch zu seinen Freunden in die neugewonnene Freiheit. Was wir damit anrichteten, wussten wir natürlich nicht. Wir hätten den Fisch erst langsam an das neue Wasser gewöhnen müssen. Den nächsten Tag lag er mit dem Bauch nach oben an der Wasseroberfläche und mich traf beinahe der Schlag. Wieder bediente ich mich der Notlüge, als Alexandra nach ihm fragte: „Dem geht’s hervorragend. Er hat viele neue Freunde gefunden!“, schwindelte ich. Den Fisch begrub ich neben dem Teich in unserem Garten. Ich buddelte ein kleines Loch und legte ihn zusammen mit einer Rosenblüte in den ewigen Schlaf. Ich vergoss sogar eine Träne.
Meine Skiausrüstung hatte es Alexandra angetan.
Mit großen Augen bestaunte sie die pinkfarbenen Bretter, die nicht meine Welt bedeuteten.
    „Wow! So tolle Skier habe ich noch nie in meinem Leben gesehen! Noch nicht mal im Fernsehen!“, strahlte sie. „Aber wir haben gar keinen Schnee. Wo fährst du eigentlich mit den Dingern?“  
    Zärtlich strich sie über die Skier, die mir, Schnee hin oder her, am Arsch vorbeigingen. Der Winterurlaub war das schlimmste Übel unserer Familienunternehmungen.
Mein Vater spielte mit seinen im Urlaub neugewonnen Freunden jeden Abend Skat und ich durfte nicht stören.
Mama lag mit Sonnenbrille und ausgestreckten Beinen auf dem Liegestuhl neben der menschenüberladenen Piste, auf denen sich die Schneehungrigen die Beine und Rippen brachen. Bei einer Tasse heißem Glühwein erzählte sie anderen Urlaubern von ihrer Lieblingsbeschäftigung, der Malerei, sowie von unserer Villa, ihrem beruflichen Status und manchmal erzählte sie sogar von mir. Dass sie stolz auf mich sei und solch einen närrischen Kram. Mit geschwollener Brust zeigte sie sogar auf mich wenn ich in der Nähe war und ich lächelte schüchtern.
Für mich hatte doch niemand Zeit. Das war die Wahrheit und sonst nichts! Ich wurde in die Skischule geschickt. Dort sollte ich mit anderen, versnobten Kindern, die sich gegenseitig mit den Skistöcken prügelten, Übungen erlernen, um den Anfängerabhang sicher und unfallfrei, hinunterzufahren. Obwohl ich keinerlei Interesse daran hegte, mir im Spagat die Haxen zu brechen, duldeten meine Eltern keine Widerrede. Ich hatte zu tun, was sie sagten und somit erlernte ich im Winterurlaub das Skifahren, während ich im Sommer Tennis spielte und zum Reiten ging. Weil ich jedoch keinen Spaß an Tennisschlägern finden konnte und die Bälle alle über die Absperrung des Tennisplatzes schmetterte, verschenkte ich auch diese Ausrüstung später an meine Freunde. Nur meine Reitstiefel, die wollte ich zum Leidwesen meiner Freundin Beatrix behalten. Die gefielen mir wirklich gut und ich träumte schon lange von einem eigenen Pferd.
    Großzügig wie ich war, gab ich meinen Freundinnen die Spielsachen mit, mit denen wir bei mir daheim spielten, wenn die Kinder des Abends abgeholt wurden. Die Hoffnung trieb mich voran, einen Teil meiner Sachen zu verschenken, damit meine Freundinnen zu anderen Nachmittagen wiederkommen werden.
Wenn sie bei mir teure Dinge abstaubten, ließen sie sich nur zu gern von mir überreden, sich von ihren Eltern bringen zu lassen.
    Verlustängste spielten in meiner Kindheit eine große Rolle. Meist verbrachte ich einen Nachmittag mit meinen Freunden und dann kassierte ich die fette Klatsche! Aus ihrer mich glücklich stimmenden Aussage: „Wir sind jetzt Freunde für immer“, wurde schnell Schnee von gestern. Das lag aber nicht an mir, sondern daran, dass mein Vater die Eltern meiner Freunde anrief und sich über deren Kinder beschwerte.
In einem dieser elenden Gespräche, das ich belauschte, teilte Papa den Empfängern am Ende der Leitung mit, dass er keinerlei Interesse an weiteren Besuchen des missratenen Nachwuchses als Spielkameraden für die eigene Tochter hegte. Für mich war das eine deftige Ohrfeige.
Oft fühlte ich mich alleingelassen und ausgegrenzt, weil niemand mit mir spielen wollte.
    „Die Tuschmanns haben nur Geld und sonst nichts!“, mobbten mich die Kinder in der Tagesstätte. Mit dem Finger zeigten sie auf mich.
    „Man zeigt nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leute!“, erwiderte ich. Ich streckte ihnen die Zunge raus. Tat auf scheißegal Gefühl, doch es nahm mich sehr mit, dass sie mich mieden und nicht mit mir spielten.
Niemand wollte sich in meiner Gesellschaft aufhalten. Gehässig sonderten sie mich aus ihren Kreisen aus und distanzierten sich von mir.
    „Das Geschenk können wir doch aber nicht annehmen!“, sagte Alexandras Mutter mit einem verzweifelten Augenrollen, als ihre Tochter mit den Skiern unter dem Arm, ins Auto einsteigen wollte.
Das ging so einfach natürlich nicht und passte von der Größenordnung schon gar nicht. Mein Vater hatte auf dem Dach unseres Autos extra einen Dachgepäckträger für unsere Skiausrüstung anfertigen lassen.
Meine Mutter beäugte mich kritisch.
Ihrem drohenden Augenrollen entnahm ich, dass sie nicht begeistert war, dass ich die neugekauften Skier verschenken wollte.
Mit schauspielerischem Talent meisterte sie die prekäre Situation jedoch nahezu bravourös.
    „Das Geschenk dürfen Sie gern annehmen, Frau Meissner! Wenn Samira sagt, dass sie Alexandra ihre Skiausrüstung schenken möchte, dann hat das seine Richtigkeit. Sehr wahrscheinlich hat sie keine Lust, wenn wir nach Ischgl fahren, den Hang hinunter zu sausen. Die Kinder sitzen ja doch lieber vor der Flimmerkiste oder spielen am Computer. Die Zeiten haben sich eben geändert.“ Meine Mutter lachte zynisch.
    „Wir können sie gar nicht mitnehmen, die Skier. Sie passen nicht in das Auto!“ Alexandras Mutter lief mehrere Male hektisch um ihren Wagen herum. Alexandra und ich, wir kicherten, amüsierten uns köstlich über das lustige Bild, das Frau Meissner abgab.
    „Mein Mann bringt Ihnen morgen die Skier!“, lachte Mama. Auch sie fand das Spektakel lustig.
    Später, nachdem Alexandra und ihre Mutter verschwunden waren, zog mir mein Vater die Ohren lang.
    „Du hast sie wohl nicht mehr alle. Was fällt dir ein, die Skiausrüstung im Wert von fast zweitausend Euro, diesem Mädchen zu schenken?!“
    „Aber sie hat sie doch so schön gefunden. Außerdem hat sie dafür bezahlt.“
    „Bezahlt? Wie viel Geld hat sie dir gegeben? Los, zeig her!“ Mein Vater hielt die Hand auf.
    „Kein Geld!“ Ich schüttelte mit dem Kopf. Papa verstand aber auch gar nichts.
    „Ich habe Fridolin bekommen.“
    „Wer ist Fridolin?“ Mein Vater tobte.
    „Ein Fisch!“, sagte ich leise.
    „Ein Fisch? Du hast allen Ernstes einen Fisch gegen deine Skier getauscht?“
    „Ja!“, sagte ich stolz. Ich hielt mich für sehr geschäftstüchtig. Immerhin hatte ich eine gute Tat vollendet. Bis auf die Beerdigung des Tieres.
    „Los, auf dein Zimmer!“ Mein Vater zeigte mir mit einer drohenden Handbewegung den Weg eine Etage höher.
Warum verstand niemand meinen Hilferuf?
Ich besaß genug von all dem Kram, den Kinderaugen strahlen ließen und doch war ich übersättigt von materiellen Dingen, die mir keinerlei Liebe ersetzten.
Meine Eltern waren blind für ihr Handeln.
Welch Trugschluss, meine Welt sei rosarot und ein Ponyhof. Das Wunschdenken der heilen Welt hört spätestens dann auf, wenn die rosarote Brille andere Farben durchlässt und der Zeitpunkt schien jetzt gekommen zu sein.  

    Die Einrichtung meines Kinderzimmers zeugte von Wohlstand und Luxus, aber auch von Zucht und Ordnung. Hier fand sich alles an seinem Platz. Aufgeräumt und sauber, konnte man vom Fußboden essen.
In meinem Herzen wohnte jedoch eine gemeine Lüge, die vortäuschte, hier sei jener Ort, an dem ich mich sicher fühlen und verstecken durfte, sobald außerhalb der vier Wände ein Tsunami von Gewalt, Hass und Lieblosigkeit tobte.

    Meine Gedanken wiegen schwer, während ich nachdenklich auf den Schreibtisch blicke und auf die eingepackten Klamotten. Nur das Nötigste will ich mitnehmen, wenn ich fortgehe.
Wie oft saß ich hier und kritzelte unter Tränen die leeren Seiten meines Tagebuchs mit Ereignissen voll, die an das Drehbuch eines Horrorstreifens erinnern, den man nach Mitternacht für über 18- jährige ausstrahlt.
Das Tagebuch liegt unter meinem Bett. Verräterisch erweckt es das Verlangen, in die Hand genommen zu werden. Mein Herzschlag galoppiert, während ich überlege, mich zu bücken, um nach dem Buch zu schauen, es hervor zu holen und einige Passagen darin zu lesen.
    Ich versuche mich zu erinnern, ob sich auch freudige Ereignisse zwischen den Seiten finden. Ich denke- eher nicht! Ich hadere mit mir, denn unter dem Bett liegen viele andere Dinge, die niemand außer mir sehen darf.
Leere Wodkaflaschen, benutztes Fixbesteck, Schwangerschaftstests und blutige Slips.
Die Vergangenheit der letzten Wochen und Monate meines Lebens hat ihren Tribut gefordert. Ich fühle mich schlecht und schuldig. Ein emotionaler Kampf tobt in meiner Brust. Wohin mit den Hinterlassenschaften eines ungewollten Doppellebens, wenn ich den Ort meiner Kindheit verlasse?
Wenn ich überleben will, muss es mir egal sein, was mein Vater über mich denkt oder jene Menschen, die die Überbleibsel einer schmerzhaften Kindheit unter dem Bett vorfinden: Die Erinnerungen an Leid und Qualen, die sich wie klebrige, schwarze Brühe hinterhältig unter dem Lattenrost verstecken und nur hervorkriechen, wenn ich es ihnen erlaube.
    Eine Träne bahnt sich den Weg über meine vom Weinen geröteten Wangen, während ich nach dem Buch greife.
Ich gehe in die Hocke und hole das Tagebuch hervor.
Mit zittriger Hand blättere ich durch einige zerknitterte Seiten. Die erste, die mir unter die Augen kommt, lässt mich gleich beim Lesen erstarren. Schmerzvoll erinnert mich die Not an mein Versprechen, dass es kein Zurück gibt und niemals geben darf!

Das Baby in meinem Bauch, ich muss es loswerden! Und ich muss mich beeilen! Lange kann ich den Umfang meines Unterleibs nicht mehr verbergen.

Ich habe beschlossen, mich zu suchen in all dem Chaos, das mich umgibt und in mir herrscht. Unsortiert, liege ich mir zu Füßen, vielleicht sollte ich bei A beginnen und mich weiterarbeiten bis Z.
A wie Aufmerksamkeit mir selbst gegenüber, Z wie zurück zu mir. Suchen und finden, immer wieder neu!
Am Ende meiner Geschichte brauche ich mehr Mut um zu leben, als um mich umzubringen. Deshalb werde ich diesen Ort hier verlassen, denn ich will Leben!


 

Palast der Tränen

Der Rosengarten, der Pavillon am See, die weißen Gartenmöbel auf Terracotta Bodenfliesen und neben dem Swimmingpool die teure Hollywoodschaukel. Wohin das Auge reicht, erstreckten sich dem Betrachter nichts als Reichtümer. Unsere Villa lag etwas erhöht an einem Hang, sodass wir einen schönen Ausblick auf das Umland genossen. Eine herrliche Aussicht!
Meine Freundinnen beneideten mich um mein Wunderland, wie sie mein zu Hause nannten.
    Im Garten gab es eine Ecke, in der meine Mutter Salat und Gurken zog. Sie liebte es, für Papa und mich, frisch zu kochen. Einen größeren Teil des Gartens ließen meine Eltern verwildern. Bienen, Schmetterlinge und andere Tiere fanden hier Nahrung und Zuflucht. Ich weiß noch, dass ich ein Buch über Tiere aus dem heimischen Garten besaß. Damit lief ich im Sommer durch das hohe Gras und begab mich auf die Suche nach ihnen. Am liebsten mochte ich die Vielfalt der Schmetterlinge, Igel und wilde Kaninchen.
    Eine Idylle, in der ich aufwuchs, dessen Schein jedoch verlogen trog.

    Manchmal saß ein kleines Mädchen mit Strohhut und bunten Hosenträgern auf der Bank im Park. Still und regungslos verweilte es dort, blickte auf das Wasser, dessen Silhouette im Strahl der Sonne, sich glänzend und im Wind leicht wellenartig, bewegte.
Gedankenverloren träumte es von einer besseren Welt. Weit fort vom Ort der Einsamkeit, in das Land der tausend Möglichkeiten, Liebe zu finden.  
Inmitten von Reichtum und unberührtem Spielzeug, verharrte es in einer für Kinder ungewöhnlichen Melancholie. Die stillstehende Schaukel, deren metallene Verschraubungen Rost ansetzten, zeugte von Desinteresse kindlicher Bedürfnisse und Missempfindungen mangels Glückseligkeit. Vieles hier war unberührt.
    Das kleine Mädchen, das traurig an seinem Lieblingsort im Garten der Eltern auf der Bank am Seerosenteich auf ein Wunder wartete, dass eines Tages alles besser werden würde, trug den außergewöhnlich schönen Namen Samira. Aufgewachsen in einer luxuriösen Welt voller Reichtümer, Glamour und Glimmer, im Herzen jedoch vereinsamt und unglücklicher, als das Aschenputtel aus dem gleichnamigen Märchen, das es so sehr liebte. Im Sonnen auf- und Untergang, gedanklich kilometerweit abwesend, träumte es vor sich hin.
Umgeben von Spielsachen und Wohlstand in einem materiellen Wunderland, beeinflussten Gewalt und Misshandlungen Samiras Entwicklung und sie lebte in einer Welt, die kälter nicht hätte sein können …


 

Die überforderten Eltern

Sehnsüchtig wartete ich auf die Heimkehr meines Vaters. Meine Spielsachen interessierten mich nicht. Auch, dass meine Mutter ununterbrochen zum Essen rief und sie mein Lieblingsgericht gezaubert hatte, überhörte ich willentlich. Stur blieb ich auf der Bank am Teich sitzen und starrte hinaus auf das trübe Wasser. Ich mochte es, der Sonne zuzusehen, wenn sie sich von unserer Seite der Welt verabschiedete und hinter den Baumwipfeln in herrlichen Rottönen untertauchte.
    Gedanklich hatte ich längst meine eigene Welt erschaffen. Ein Paralleluniversum, in dem ich mit imaginären Freunden sprach und mich mit den Tieren unterhielt. Von Ameisen über Käfer und Igeln war ich mit allen Insekten und Säugetieren per Du.
Später einmal, wenn ich groß wäre, würden mindestens drei Kinder hier im Garten spielen. Ihr freudiges Lachen sollte hinaus in die Welt getragen werden und überall zu hören sein. Hier gäbe es keinen Platz für Trauer, Angst und Einsamkeit. All das hier, der Garten, der Pool, die Villa und was sonst noch alles zu meinem Leben dazu gehörte, würde in einigen Jahren mir gehören. Na und? Ich schiss doch längst auf alles, was meine Kindheit schöner machen sollte.  Mama hätte mir die goldene Badewanne hinstellen könne und ich hätte lediglich müde darüber gelacht, Wasser einzulassen. Mich erfreute und erheiterte so ziemlich gar nichts mehr. Die Einsamkeit hatte mein Herz verbittert.
    Papa sagte: „Du erbst das hier, wenn Mama und ich tot sind! Mach das Beste draus. Und vor allem, mach es besser, als wir es getan haben.“ Ja, das wollte ich tun, wenn es so weit wäre. Meine Eltern stritten täglich. Seit ich denken konnte, herrschte Unzufriedenheit in ihren Seelen und das belastete mich als kleines Kind sehr. Es gab kein zärtliches Miteinander in unserer Familie, sondern nur das aggressive Tauziehen: Wer ist der Stärkere am anderen Ende des Seils? Mama oder Papa? Selten erlebte ich meine Eltern sexuell aktiv und damit meine ich nicht, dass ich heimlich durch das Schlüsselloch ihrer Schlafzimmertür geschielt und für Kinderaugen unanständige Dinge gesehen hätte oder nach ihnen lechzte. Nein, dem war nicht so. Mich interessierten Sex und der Austausch von Körperflüssigkeiten einen feuchten Kehricht, aber es gab keine netten Worte im Eheleben meiner Eltern, an denen ich mich in meiner Entwicklung orientiert hätte.
    Keine Küsse und keine liebevollen Berührungen. Nicht in unseren vier Wänden und innerhalb oder außerhalb der Öffentlichkeit auch nicht. Da war stets das kühle Gegeneinander. Innere Unzufriedenheit, das Bestreben nach Macht und Reichtum, beherrschten den Alltag meiner Eltern.
    Dennoch liebte ich Mama und Papa, beide gleich.
Im Laufe der Jahre fühlte ich mich allerdings zusehends immer mehr zu meinem Vater hingezogen. Das lag daran, weil er der Ruhigere war. Mama schien ständig auf der Flucht zu sein vor Terminen und irgendwelchen Menschen, die ihre Zeit und Nerven raubten. Papa war im Umgang zudem zärtlicher und liebevoller mit mir, was meinen Tagesablauf erheiterte und er war es auch, der sich Zeit für mich nahm. Er schimpfte weniger und ich gewann neuerdings den Eindruck, dass Mama der Auslöser für die Hasstiraden und Unruhen innerhalb der Ehe war und nicht er. Sie war streitsüchtig und egoistisch. Zudem kommandierte sie mich grundlos den ganzen Tag lang durch die Gegend und das Verhalten schmälerte jegliches, zärtlich aufkeimende Gefühl von Liebe in mir. Ich erwischte mich dabei, ganz leise zu sagen:
    „Ich hasse dich!“
    „Räum dein Zimmer auf!“, zischte sie.
    „Das ist aufgeräumt!“, antwortete ich.
    „Ist es nicht!“
Meine Mutter stieß in meinem Beisein wutentbrannt die Kinderzimmertür auf und mich lieblos beiseite.
    „Hier! Schau mal! Gar nichts ist aufgeräumt!“
Herzlos nahm sie meine Spielsachen und schleuderte sie quer durch das Zimmer. Den Stapel eingeräumter Pullover und Hosen riss sie jähzornig aus dem Kleiderschrank und verteilte sie über und untereinander, auf dem Fußboden und in meinem Bett. Sie veranstaltete ein unfassbares Chaos und anschließend schob sie mir die Schuld in die Schuhe.
    „Ich gebe dir eine halbe Stunde Zeit, dann ist der Sauladen hier wieder picobello aufgeräumt und ordentlich! Hast du mich verstanden? Eine Stunde!“
Weinend sortierte ich meine Kleidung und schaffte Ordnung in einem Durcheinander, für das ich nicht mal verantwortlich war.
Am Abend klagte Mama meinem Vater ihr Leid.
Wie schwer erziehbar ich doch sei und dass er mal ein Machtwort mit mir sprechen sollte, was meine Ordnungsliebe anbetraf.  
Mein Vater reagierte allerdings anders als von Mama erwartet, er verbündete sich mit mir.
   „Ich finde, du solltest nicht so streng sein mit Samira. Das Kind macht doch gar nichts.“ Papa legte ein gutes Wort für mich ein und für seine Hilfe war ich ihm wirklich dankbar. Allerdings wurde ich in meinen Gefühlen hin und her geschubst. Papa ruinierte meine Freundschaften, stellte sich jedoch schützend zwischen Mama und mich.
Doch, je öfter er sich in Streitdialogen auf meine Seite schlug, desto höher sprang Mama im Dreieck und umso brutaler schikanierte sie mich, sobald Papa ihr den Rücken kehrte.
Den nächsten Tag explodierte sie mal wieder. Grundlos eigentlich. Aus Wut durchwühlte sie sämtliche Sachen meines Zimmers.
Nicht nur, dass sie meine Spielsachen quer durch den Raum schmiss, wie sie es immer tat, nein, dieses Mal riss sie das Fenster sperrangelweit auf und schmetterte meine Sachen hinaus in den Garten.
    „Innerhalb einer Stunde hast du das Chaos hier aufgeräumt, Mädchen!“, drohte sie. Die Bezeichnung Mädchen ängstigte mich.
    „Samira hat schon wieder keine Ordnung gehalten. So wird aus unserem Kind später nichts Gescheites werden, wenn du in der Erziehung nicht endlich durchgreifst!“, tobte Mama.
    „Hör doch auf zu streiten, Marie!“, sagte Papa.
    „Ich streite nicht. Das sind Feststellungen!“
    „Weißt du was? Geh zu deinem Liebhaber und klage dem dein Leid. Vielleicht hat er Verständnis für deinen Frust und deine miese Laune! Ich komme schon klar mit unserer Tochter. Und weißt du was? Pack am besten deine sieben Sachen zusammen und komm nie wieder zurück zu uns!“ Papa hatte Tränen in den Augen, als er Mama die Meinung geigte und ich ein schlechtes Gewissen. All der Ärger, nur wegen mir!
Als mein Vater das mit dem Auszug an jenem Tag sagte, an dem Mama meine Klamotten in den Garten schmiss, freute ich mich, dass auch sie anschließend im Schlafzimmer weinend auf dem Ehebett saß. Selten nur sah ich sie traurig. Ich wünschte mir, dass auch sie im Herzen einmal spürte, wie es sich anfühlte, für etwas bestraft zu werden, für das man nicht verantwortlich war.
Woher hätte ich wissen sollen, wenn einem von beiden Elternteilen der Partner wegfiele, dass die Hasstiraden noch erbarmungsloser über das Kind hereinschmettern würden?
Sich das Theater nur in Grenzen hielt, weil sich meine Eltern gegenseitig runtermachen konnten.
Bestens diente ich ihnen als Prellball ihrer dreckigen Psychospielchen. Gnadenlos schossen sie mich hin und her, wie einen luftleeren Fußball, von einer Seite auf die andere.
    Ich litt unter dem Verhalten meiner Mutter, zusehends aber auch immer mehr unter dem meines Vaters.
Er wollte nur das Beste für mich, während Mama ihre Aggressionen an mir ausließ.
Wie sehr ich unter ihren Machtkämpfen litt, war ihnen egal. Mit ihrer Gleichgültigkeit ließen sie mein Herz verkümmern und die Sehnsucht nach Liebe in meiner Seele, immer lauter aufschreien.
Ich suchte Halt, Liebe und Anerkennung, zu spüren bekam ich Ablehnung, Hass und Gewalt.
Hinter verschlossenen Türen der Vorzeigevilla und spießbürgerlichen Familie, spielte sich zusehends ein Drama ab.
    Außenstehende sahen lediglich die perfekte Fassade, die immer mehr bröckelte. Meine Eltern waren wohlhabend und somit in der Gesellschaft anerkannt. Der Freundeskreis meines Vaters war elitärer Herkunft. Gutaussehende Männer, die mit Nadelstreifenanzug, Krawatte und Aktentasche unter dem Arm das Haus betraten.
Hinter ihren maßgeschneiderten Designeraufmachungen und gutduftendem Parfüm, mit dem sie sich einnebelten, vermutete ich liebevolle Väter, die daheim ihre Kinder und Frauen auf Händen trugen. Mir gegenüber verhielten sie sich zumeist freundlich.
Manchmal schenkten sie mir Naschkram und einer von ihnen überreichte mir schließlich das hübsch eingepackte Geschenk, das Tagebuch.
    „Du gehst ja bald in die Schule! Ich denke, das wird dir gefallen!“
    „Was ist ein Tagebuch?“, fragte ich neugierig.
    „Da schreibst du, wenn du dann bald Schreiben kannst, alles rein, was du den Tag über erlebt hast!“, sagte der Überbringer freundlich lächelnd.   
    „Meine Tochter ist zwei Jahre älter als du. Sie schreibt mit Begeisterung Tagebuch!“ Der Fremde streichelte lächelnd über mein Haar. Unter der an sich befremdlichen Berührung, spürte ich so etwas wie eine tiefe Sehnsucht in mir, jemandem von meinen Gefühlen zu erzählen. Wenn derjenige dann eben dieses Buch sein sollte, dann wäre das prima. Ich vermisste nämlich die heile Welt und die perfekte Familie, in denen beide Elternteile ihren Aufgaben mit Liebe im Herzen gerecht wurden. Wer wollte mich in den Armen nehmen? Mir Trost und Zuspruch schenken, wenn ich es am Nötigsten hatte? Wer? Meine Eltern wohl kaum, leider.
Eine Familie wünschte ich mir, in der die Mutter mit Schürze am Herd steht und leckeres Essen kocht. Es gäbe heißen Vanillepudding und die Kinder dürften den Topf ausschlecken. Bildlich gesehen ein Fest meiner Gefühle. Nicht selten träumte ich von dieser mir erschaffenen Welt, in der Harmonie und Liebe vorherrschten.  
Alle säßen zum Essen in geselliger Runde, in der gelacht und geschäkert, statt gezankt werden würde. Ein Traum, der sich wohl nie erfüllen ließe, dachte ich schweren Herzens.
Das Bild der heilen Familie kannte ich aus Märchenfilmen, die ich schon als kleines Kind mit Begeisterung anschaute,  nicht jedoch aus dem wahren Leben.

Sobald meine Eltern stritten, verließ ich das Zimmer. Entweder die Küche, das Wohnzimmer oder das Büro meines Vaters. Dieses war der perfekte Aufenthaltsort für elterliche Streitereien.
Weinend warf ich mich auf mein Bett und hielt meine Ohren zu oder drehte die Musik ganz laut.
Dennoch, wie jedes Kind, war auch ich abhängig von den Launen der Erwachsenen und deren Handlungen. Musste mich ihren schäbigen Erziehungsmethoden unterwerfen und meinen Mund halten. Ihrer Willkür ausgesetzt, mich wie ein nutzloses Etwas hin und her schubsen und widerwärtig behandeln zu lassen, wuchs ich als unglückliches Mädchen heran.
Ein Mädchen, das, als es die Schule besuchte, bereits als verhaltensauffällig galt.

Auf Fragen der Lehrerin antwortete ich meist nicht. Niemals passierte es, dass ich freiwillig meinen Finger in die Luft streckte, um vor der Klasse Aufgaben zu beantworten. Meine Angst, etwas Falsches zu sagen und das alle über mich lachten, war viel zu groß.
Nur wenn sie mich gezielt ansprach, sie direkt vor meinem Tisch stand und mit drohenden Augen meinen Name nannte, hob ich meinen Kopf und sagte leise:
    „Ich weiß die Antwort nicht.“ Ich wusste sie tatsächlich nicht. Nicht, weil ich dumm war, sondern weil ich nicht zugehört hatte. Ich mich wegen den Problemen zu Hause nicht auf den Unterricht konzentrieren konnte.
    „Ich rufe später deine Mutter an, Samira!“, sagte die Lehrerin. Der angedrohte Anruf machte mir Angst.
Ich wollte keinen Ärger, den hatte ich daheim zur Genüge. 
Nach dem Anruf der Schulleitung gab es großes Theater zu Hause. Meine Mutter fuhr komplett aus der Haut.
    „Was soll das? Wieso kannst du dich nicht benehmen wie andere Kinder? Die Lehrerin sagt, du verschläfst den Unterricht, beteiligst dich nicht und störst mit deiner geistigen Abwesenheit. Was soll das? Haben wir dich etwa so erzogen?“
    „Nein Mama, tut mir leid, wenn ich immer nur Ärger mache“, sagte ich traurig.
Bevor sie weiterhin wutentbrannt auf mich einredete und mir eine Moralpredigt hielt, wollte ich lieber in mein Zimmer verschwinden und mich dort am Fell meines Teddybären ausheulen.
Später, am Abend, stellte mich mein Vater zur Rede.
Zu dem Zeitpunkt war ich sieben Jahre alt und besuchte die erste Schulklasse. Während Mama komplett ausgerastet war, blieb Papa wieder einmal gelassen. Er machte sich das zerrüttete Verhältnis zwischen Mama und mir zu seinem Nutzen.
    „Samira. So darf das nicht weitergehen. Wenn du in der Schule nicht aufpasst, verlierst du den Anschluss. Du möchtest doch sicherlich später einmal das Gymnasium besuchen und dein Abitur machen? Eine Menge Geld verdienen, damit du dir alles kaufen und leisten kannst, was du dir wünschst? Dann solltest du jetzt im Unterricht fein aufpassen.“
    Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich wollte kein Abitur machen. Alles was ich wollte, war eine intakte Familie, in der Frieden herrschte und mich jemand so liebte, wie ich war. Und Freunde, die wollte ich auch unbedingt haben! Eine ganze Hand voll und noch mehr!
Unter den zunehmenden Streitereien meiner Eltern litt ich wie eine ausgepeitschte Hündin, die beständig auf der Suche nach Liebe war. Die sich in das letzte Loch verkrümelte, um nicht geschlagen zu werden von Menschen, von denen sie sich Liebe erhoffte.  
Meinem Vater blieben die Veränderungen an meinem Verhalten nicht unbemerkt.
    „Mäuschen, was ist los mit dir? Du sitzt den ganzen Tag lang in deinem Zimmer! Geh doch mal raus bei dem schönen Wetter!“
Dass ich mich immer mehr zurückzog, von der Außenwelt abschottete und im Herzen tieftraurig war, keine Freunde mit nachhause bringen zu dürfen, die nicht dem gesellschaftlichen Status meiner Familie entsprachen, keine Liebe der Eltern zu spüren, entging meinem Vater nicht. Es wäre so einfach gewesen, wenn er die Auswahl meiner Freunde mir überlassen hätte, statt sie selbst zu treffen. Denn niemand, wirklich niemand von den Mädchen aus meiner Klasse, entsprach seinen Vorstellungen. Dabei mochte ich einige von ihnen sehr.
Allerdings zog er mich neuerdings öfter als sonst, in seine Arme. Nahm mich auf den Schoß und widmete mir seine kostbare, freie Zeit für Zärtlichkeiten und Nähe.
Liebevoll streichelte er meinen Kopf, kitzelte über den Bauch und kraulte mit zwei Fingern zwischen meinen Schenkeln. Vertrauensvoll schmiegte ich mich an den Felsen meiner Brandung.
Wahrscheinlich kompensierte mein Vater die harten Erziehungsmethoden meiner Mutter mit Streicheleinheiten.
Die väterlichen Zuwendungen genoss ich sehr.
Etwas Wärme und Licht in meiner emotionalen Dunkelheit.
Papas Zuneigungen waren Balsam für meine geschundene Seele. Meine Mutter nahm sich keine Zeit für Streicheleinheiten.
Es gab nicht mal einen Kuss von ihr zum Schlafengehen. Meist war es Papa, der mich ins Bett brachte.
    „Schau mal! Möchtest du den Pumuckl Schlafanzug anziehen oder lieber den mit der Eisprinzessin?“ Mein Vater gab sich wirklich Mühe und er war sehr aufmerksam.
    „Die Eisprinzessin zieht man im Winter an und nicht im Sommer, Papa!“, lachte ich.
    „Na, ich dachte, du wolltest dich bei der Hitze vielleicht ein bisschen abkühlen?“
Mein Vater war im Gegensatz zu meiner Mutter sehr humorvoll. Mit ihm konnte ich wunderbar lachen und Späße machen.
Doch neben der liebevollen Art gab es auch eine andere Seite. Eine düstere, die ich schon bald kennenlernen sollte. In der breiten Brust, an die ich mich so gern vertrauensvoll kuschelte, schlug nicht nur das liebevolle Vaterherz, sondern da lauerten finstere Dämonen hinter der treusorgenden Fassade. Die streckten zusehends ihre Krallen nach mir aus. Wegen der eigenen inneren Unzufriedenheit durch die Streitereien mit Mama, drohte mein Vater die Kontrolle über seine marode gewordene Gefühlswelt zu verlieren.
Der tägliche Ehestreit, der Kummer und die Sorgen, forderten ihn nervlich.
Die Zeiten in denen wir miteinander mehr als vertraut waren, in denen wir kuschelten und schmusten, wurden plötzlich seltener. Sie verschwanden genauso schnell, wie sie gekommen waren. Für mich ein Schlag in den Nacken. Bei jeder Gelegenheit versuchte ich, mir meine heißersehnten Liebkosungen abzuholen.
    „Weißt du, es tut mir leid, dass ich kaum noch Zeit für dich habe. Papa muss viel arbeiten, damit wir uns das leisten können, wovon andere Menschen träumen!“, erklärte er.
Mit sieben Jahren verstand ich die Melancholie hinter seinen Worten nicht und auch in seinen Problemen und alltäglichen Sorgen kannte ich mich nicht aus.
Weder, dass die Ehe zwischen ihm und Mama auf wackeligen Füßen stand und er daran zu zerbrechen drohte, dass meine Mutter mit einem Bein bereits ausgezogen war, noch, dass sich meine Eltern längst auseinandergelebt hatten. Jeder ging seine eigenen Wege.
Da gab es finanzielle Belastungen und Angelegenheiten, die einvernehmlich geregelt werden mussten, bevor einer von beiden die Reißleine zöge.
Ich wusste nicht, dass wenn Mama mich abends zu Bett brachte sie bereits des Nachmittags mit anderen Männern kopulierte, statt mit mir etwas zu unternehmen, so wie sie es früher getan hatte.
Meine Leidensgeschichte beginnt mit acht Jahren.
Mein Vater muss in den Tiefen seines Herzens ein sehr einsamer Mensch gewesen sein. Sein Bedürfnis nach Liebe und Zärtlichkeiten war solange ich denken konnte, immer ungewöhnlich groß. Mir gegenüber bedeutend intensiver und inniger, als es in der Vater- Kind- Beziehung normal und erlaubt gewesen wäre.
    „Samira! Komm mal zu Papa!“
Mein Vater zelebrierte es als eine Art Ritual, mich nach getaner Arbeit zu begrüßen, bevor er sich dem Bürokram und anderen Dingen zuwandte. Je älter ich wurde, umso mehr plagte mich das Gefühl, er stieße mich immer öfter von sich. Er handelte abweisend und um Ausreden war er nicht selten verlegen.
    „Ich habe jetzt keine Zeit, Schätzchen!“, sagte er abweisend. Zwischen uns wurde es immer kühler, aber warum? Anfangs spürte ich nichts von dem drohenden Unheil das auf uns zukam. Doch als mein Vater die Liebkosungen beinahe komplett einstellte, sie immer weniger wurden und ich regelrecht nach ihnen bettelte und nach Aufmerksamkeit verlangte, wendete sich das Blatt.  
    „Na gut, komm her!“ Papa seufzte.  
In seinen starken Armen lag ich gern. Wenn er dann noch das Märchenbuch zur Hand nahm und mir vom Rumpelstilzchen vorlas, war meine Welt wieder in Ordnung.
Glücklich und dankbar, schmiegte ich meine Wange an seine starke Brust, während er bestimmte Partien meines Körpers streichelte, die für Berührungen eines Erwachsenen hätten tabu sein müssen.
Papas Zuwendungen waren mir nicht unangenehm, denn zunächst geschah nichts aus Zwang.
Wir küssten uns auf den Mund.
Für mich war nichts dabei, ich kannte es nicht anders und ließ es freiwillig geschehen. Ich kicherte vergnügt, weil alles so rau war wegen der Bartstoppeln.
Selbst Mama erwähnte zu keiner Zeit, dass es unangemessen sei, den Papa auf den Mund zu küssen und sie hatte ja eigentlich an allem was auszusetzen und rumzumeckern. Meine Mutter küsste mich auch auf den Mund, warum sollte Papa es ihr nicht gleichtun dürfen?
Doch als ich die große, raue Zunge meines Vaters zwischen meinen Lippen spürte, die mit Druck entlang meiner Zahnreihe wanderte und meine Zunge mehrere Male aufdringlich anstupste, wurde mir unwohl. Erschrocken befreite ich mich aus seinem Griff.
    „Hey, was ist denn los?“, rief er mir nach als ich ihm davonlief.
In meinem Bett knuddelte ich meinen geliebten Teddybären und vergoss ein paar Tränen.
Ich versuchte zu verstehen, was soeben geschehen war. Warum hatte Papa etwas getan, bei dem mir unwohl wurde? In meinen kindlichen Gefühlen fühlte ich mich plötzlich verunsichert.
Ich kannte mich nicht mehr aus.


 

Abgründe

Mama verabredete sich neuerdings zum Leidwesen meines Vaters immer öfter mit ihren Freundinnen.  
Das zu Bett bringen sollte er übernehmen.
Zunächst fluchte er über die ihm angedachte Aufgabe.
Es sei unverschämt, die Pflichten der Mutter auf den Vater abzuwälzen, sagte er.
    „Sprich wenigstens die Wahrheit! Du verabredest dich nicht mit deinen Freundinnen, sondern steigst mit fremden Männern in die Kiste. Du hintergehst und verarschst mich. Aber glaube mir, lange spiele ich dein dreckiges Spiel nicht mehr mit! Dann schmeiße ich dich hier raus.“
Meine Mutter kümmerte sich nicht um das Gerede.
In aller Ruhe legte sie im Badezimmer ihr Make Up auf, zog sorgsam die Augenbrauen nach und kleidete sich auffallend attraktiv. Meinen Vater machte das Verhalten fast irre vor Wut.
    „Für mich machst du dich nie so schön. Das muss ja ein ganz toller Hecht sein, dein Neuer!“, schrie er aufgebracht.
    „Der gibt mir wenigstens das, was ich brauche, im Gegensatz zu dir“, antwortete Mama.
Mit geballter Faust schlug mein Vater gegen die abgeschlossene Badezimmertür.
    „Ich rufe gleich die Polizei!“ Mama versuchte gelassen zu bleiben. Die Anspannung in ihrer zittrigen Stimme ließ sich jedoch nicht leugnen. Die grässliche Szene des Wortgefechts beobachtete ich aus sicherer Entfernung durch das Geländer der Treppe hindurch.
    „Ach ja? Warum denn? Was sollen die Bullen hier bei uns? Sollen sie dir etwa beim Ausziehen oder Farbe ins Gesicht kleistern, helfen?“ Mein Vater lachte affektiert.
    „Häusliche Gewalt! Die nehmen dich mit und stecken dich in die Ausnüchterungszelle. Damit du wieder zu Sinnen kommst. Du bist ja nicht mehr ganz bei Trost! Gewalttätig und aggressiv bist du. Die Polizei muss unschuldige Frauen vor gemeingefährlichen Typen wie dir, schützen!“
    Bei dem Wort Polizei wurde mir anders. Vor den Männern in Uniform hatte ich Respekt. Papa zog sich zurück und ließ es in dem Augenblick gut sein. Auf das letzte Wort legte er keinen Wert. Fluchend griff er stattdessen zum Staubsauger und saugte jede Ecke des Wohnzimmers. Staubsaugen tat er immer dann, wenn er sich abreagieren musste.
Mama verschwand ohne mir Tschüss zu sagen, aus der Haustür. Traurig stand ich am Fenster und sah ihr nach.
Sie sah hübsch aus. Nunmehr beeindruckte sie fremde Männer mit ihrem Aussehen, nicht aber ihren Ehemann. Ihr kaltes Auftreten versetzte mir einen Hieb ins Herz. Warum liebte sie Papa nicht mehr?

    „Deine Mutter lehnt sich ganz schön weit aus dem Fenster mit ihrer großen Klappe. Wenn ich die Faxen mal richtig dicke habe, fliegt sie hier hochkant raus. Und du, Fräulein, geh schon mal ins Badezimmer! Bevor es ins Bett geht, wird sich’s gebadet.“ Mein Vater hatte eine Flasche Bier aufgezogen. Zwei weitere standen auf dem Küchentisch. Bereits leergetrunken.
    Das war das erste Mal, dass mein Vater verlangte, mich vor seinen Augen auszuziehen und in die Wanne zu setzen. Bisher hatte ich nur im Beisein von Mama gebadet oder allein unter der Dusche gestanden. Zunächst dachte ich mir nichts dabei aber es verunsicherte mich.
Auf meinen entsetzten Blick hin zischte er:
    „Jetzt guck nicht so blöde, geh schon!“
Nachdenklich ließ ich warmes Wasser in die Wanne einlaufen. Wie befohlen entkleidete ich mich und legte die Handtücher fein säuberlich zurecht. Eins vor die Wanne und eins daneben, zum Abtrocknen. Mama mochte es nicht leiden, wenn das Wasser auf die Bodenfliesen tropfte. Derweil ich auf meinen Vater wartete, bemerkte ich natürlich nicht, dass der in der Küche mittlerweile die vierte Flasche Bier aufgezogen und getrunken hatte.
Generell hatte ich bis dato meinen Vater keine alkoholischen Getränke zu sich nehmen sehen.
Schwankend und mit hochrotem Kopf, betrat er schließlich das Badezimmer. Erhobenen Hauptes stellte er nüchtern fest:
    „Bist ja noch gar nicht im Schwimmbecken, Fräulein!“
Auf dem Rand der Wanne sitzend, hatte ich dem Einlaufen des Wassers zugesehen und jetzt erschrack ich vor dem Bild meines Vaters, das mir fremd war.
Vor mir stand ein angetrunkener Mann und es war das erste Mal, dass ich die andere Seite meines Vaters kennenlernte. Skeptisch begutachtete er mich.
    „Du bist hübsch!“, sagte er. „Viel hübscher als deine Mutter. Mit Cellulitis wirst du jedenfalls später keine Schwierigkeiten bekommen.“ Er lachte. Ich wusste gar nicht worüber.
Mit einer Leichtigkeit kletterte ich in die Wanne.
Doch so eilig ich mich mit dem Popo reinsetzte, so zügig sprang ich auch wieder hinaus. Das Wasser war viel zu heiß. Die Tränen der schmerzhaften Verbrühung konnte ich nicht zurückhalten.
    „Ach Mäuschen. Komm mal her. So was Blödes aber auch. Jetzt hast du dir den Pöppes verbrannt. Komm, ich puste mal!“ Mein Vater nahm mich in seine Arme.
Die Fahne des Alkohols umwehte uns.
Mit nervösen Händen strich er über meine Pobacken.
    „Gleich ist der Schmerz vorbei!“, raunte er.
Seine spröden Lippen spürte ich nah an meinem Ohr. Zu nah und viel zu aufdringlich. Aus Angst, was passieren würde, hielt ich still. Bewegte mich nicht. Mein Vater streichelte mit dem Zeigefinger entlang meiner Wirbelsäule. Jeden Knochen berührte er einzeln, jede Faser meiner Haut liebkoste er. Er tat es langsam, aufmerksam und mit Bedacht.
    „Da tut es gar nicht weh!“, sagte ich leise.
    „Ich weiß. Hier an der Stelle ist es aber schön. Und wenn es schön ist, das Gefühl, dann schmerzt auch der Hintern nicht mehr. Gefällt es dir, wenn ich dich streichele?“ Seine Hände wanderten über meinen Brustkorb. Sachte drehte er mich mit einem Griff an meinen Schulterknochen um. Angesicht zu Angesicht, küsste er mich auf den Mund. Wortlos und ohne Erklärung für sein widerliches Handeln, küsste er wieder und wieder meine zarten, aber für die Liebkosungen, zu starren, nicht nachgebenden Lippen. Die Küsse waren mehr oder minder ein ekelhaftes Schlabbern und Sabbern, von dem ich nicht wusste, wie ich sie erwidern sollte.
    „Gefällt dir das, kleine Prinzessin?“, lallte er.
Ich antwortete ihm nicht.
Ich wusste nicht, wie mir geschah und was ich sagen sollte. Nein, es gefiel mir gar nicht, aber ich hatte nicht den Mut, meinem Vater die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Ja, ich hätte meine Gedanken am liebsten hinausgelassen, doch ich blieb zurück in meiner Stille.
    „Es gefällt dir. Das merke ich doch. Du zitterst ja. Vor Erregung? Komm, gib es zu. Du willst es doch auch, dass ich dich streichele. Die letzten Wochen hast du um meine Zuneigung regelrecht gebettelt. Aber du bist ja so schüchtern. Bist ein kleines, schwaches und zurückhaltendes Mädchen, das sich nach der Liebe eines starken Mannes sehnt.“ Mein Vater streichelte entlang meines Oberkörpers und griff mir zwischen die Schenkel. Mit Druck spreizte er sie. Als er bemerkte, dass ich steif wie eine Statue vor ihm stand, ließ er von mir ab.
Nach dem Vorfall war ich wie gelähmt.

Je öfter wir gemeinsam zum Abendbrot aßen, während Mama sich durch die Weltgeschichte vögelte, wie Papa das unleidige Wort für ihre wilden Sexabenteuer nannte, desto deutlicher erkannte ich, dass er regelmäßig Alkohol trank.
Welchen Einfluss das Dreckszeugs auf sein Verhalten nehmen sollte, konnte ich mit acht Jahren nicht wissen.
    Dass ich mich nach dem Essen und vor dem Zubettgehen nackt ausziehen sollte, um in die Badewanne oder unter die Dusche zu steigen, wurde zu einem regelmäßigen und neuen Ritual meines Vaters. Während er meinen Körper in der Badewanne mit Schaum einseifte, ihn fürsorglich abduschte und mit dem Handtuch abtrocknete, desto wohler wurde ihm und desto unbehaglicher wurde es mir.
    Das Prozedere vom Einmassieren des Schaums forderte er immer öfter auch unter der Dusche und die Handgriffe unter der Massage wurden eindeutiger. Angstvoll erkannte ich, dass das, was er tat, nicht mit rechten Dingen zuging.
Dass ich mich vor seinen Augen nackt hin und her drehen und mit dem Po wackeln sollte, ebenfalls.
    Einmal meinen Hintern ihm zugewandt, küsste er die Ritze zwischen den Backen, fuhr mit der Zunge hindurch und dann wollte er wiederum mein Gesicht sehen, um meine Lippen zu küssen. Der herbe Geruch meines Popolochs legte sich ekelbetörend auf meine Schleimhäute.
Was geschah mit mir? Nasse Hände verlangten meinen Oberkörper zu streicheln. Um meine Brustwarzen zogen große und raue Finger kleine Kreise. Dabei gab Papa sonderbare Laute von sich und das alles war mir mehr als unheimlich und auch sehr unangenehm. Jedes Mal seufzte er: „Du magst es doch auch my little Girl. Du bist nur schüchtern und sagst nichts. Mein kleines, hübsches Mädchen.“
    Während ich baden musste, setzte Papa sich auf die Toilette. Es machte ihm nichts aus, dass ich ihm bei seinem Geschäft zusah. Manchmal las er Zeitung, sollte es länger dauern, dann wiederum starrte er vom Toilettentopf aus, mit sonderbarem Blick minutenlang meinen Körper an und seine Augen blitzten sonderbar.
Was mir überhaupt nicht gefiel, waren die Tage, an denen er mich bewusst zu sich ins Badezimmer rief, damit ich ihm beim Geschäft, das er auf der Toilette entrichtete, zusah. Sowohl beim Urinieren, als auch bei der großen Erledigung, sollte ich mit dabei sein und zugucken.
Ich rang mit mir, was ich jetzt eigentlich schlimmer fand. Zugucken oder den Geruch von Fäkalien auf der Zunge zu schmecken und es in den Nasenlöchern zu riechen, was da an Hinterlassenschaften in die Kloschüssel plumpste.
Möglichst nackt sollte ich bei Papas Toilettengang sein. Das bedeutete, ich hatte mich auszuziehen, bevor er die Hosen runterließ. Nicht nur, dass mich der Gestank seiner Fäkalien anekelte, die mit einem „Platsch“ und mehreren Fürzen ins Klo sausten, so mochte ich sein Glied überhaupt nicht ansehen, wenn er dieses in das Pissoir hielt. Meine Abneigung gegen das männliche Geschlechtsteil versetzte meinen Mageninhalt oft in Übelkeit und brachte ihn in bedrohliche Situationen. Nicht kotzen zu müssen, glich einem Tanz auf dem Drahtseil. Ich schämte mich. Abgrundtief wäre ich aus Scham am liebsten im Erdboden versunken und hätte mich in das tiefste Loch verkrochen und eingebuddelt wie Fridolin den Goldfisch.
    „Du könntest ihn ruhig mal halten!“, rief Papa, während er pinkelte. Energisch schüttelte ich den Kopf. Nein! Um Gottes Willen, ich würde alles tun, aber das wollte ich auf gar keinen Fall. Niemals würde ich freiwillig einen Penis anfassen oder festhalten und den meines Vaters schon gar nicht.
    „Ih bah!“, sagte ich. Alles in mir schüttelte sich.
    „Das ist nicht bah! Wenn du größer bist, wird es dir Freude machen und gefallen, den Penis des Mannes in deinen Händen zu halten. Du wirst ihn lutschen und ablecken wollen!“ Nein! Das konnte und wollte ich mir nicht vorstellen, dass ich jemals so etwas Widerwärtiges tun würde. Beschämt sah ich weg, wenn Papa seinen Penis in Händen hielt und mich aufforderte, es ihm gleichzutun. 
    „Komm, jetzt sei nicht so. Stell dich nicht an wie eine Memme, nimm ihn endlich! Der Papa mag das gern, wenn du lieb zu ihm bist. Ich streichele dich doch auch an den Stellen, wo du es besonders gern magst.“
Ich überlegte. Papa kitzelte und berührte mich neuerdings an Stellen, an denen ich es gar nicht mehr gern mochte.
Verängstigt, hielt ich meinen Mund. Unschuldig stand ich neben dem Geschehen und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Die Szenen im Bad wiederholten sich mit erschreckender Regelmäßigkeit. Mir wurden sie immer unangenehmer.
    „Du sagst aber der Mama nichts, hörst du!“
Papa servierte mir zum Abendbrot Bockwurst mit Nudelsalat. Eigentlich meine Lieblingsspeise, doch an dem Tag hatte ich gar keinen Hunger und rührte nichts an.
Lustlos starrte ich auf den Teller. Ich wusste, dass mir anschließend die Wanne drohte und dass ich im Wasser Streicheleinheiten über mich ergehen lassen müsste. Liebkosungen, gegen die sich alles in und an mir sträubte und ich meinem Vater beim Kacken zugucken und womöglich sein Glied in die Hand nehmen sollte, wäre das Allerletzte. Ein Albtraum aus dem es kein Entrinnen gab! Immer wieder stellte ich mir die Frage nach dem Warum.
    „Ich mag das nicht essen, Papa. Ich habe Bauchschmerzen!“, jammerte ich. Mir war speiübel bei der Vorstellung, was mich erwartete.
    „Die massiere ich dir gleich weg, deine Bauchschmerzen!“, sagte er grinsend.
Nach der Badewannensession, als er mich eingeseift, abgeduscht, unsittlich angefasst und ins Bett gebracht hatte, sprach er ein ernstes Wörtchen mit mir.
    „Das, was wir zwei so treiben, bleibt unser Geheimnis! Weißt du, ich möchte nicht, dass die Mama wegen dir traurig ist. Wenn sie weiß, dass ich dich lieber mag als sie, wird sie fürchterlich enttäuscht sein. Wahrscheinlich packt sie ihre Sachen zusammen und verschwindet zu ihrer besten Freundin Helga. Das wollen wir doch beide nicht, dass sie geht oder wollen wir das?“
Aufgeregt schüttelte ich den Kopf. Nein, das wollte ich auf gar keinen Fall. Ich hatte die Mama sehr lieb, sie sollte bitte nicht weggehen und schon gar nicht sollte sie meinetwegen traurig sein und weinen. Papa redete mir hervorragend ein schlechtes Gewissen ein und das blieb an mir haften wie Pech und Schwefel.  
    Meine Mutter blieb im Laufe der nächsten Monate des Abends immer öfter und immer länger fort.
Nicht selten kehrte sie von ihren Ausflügen erst am nächsten Morgen zurück. Während ich verschlafen aus dem Bett stieg, um mich für die Schule fertig zu machen, spazierte sie fröhlich lächelnd zur Haustür herein.
Ihre zerzausten Haare sahen aus, als sei sie durch einen Wirbelsturm gerannt und das hätte ihr sogar Spaß gemacht. Ihre gute Laune erreichte jedoch schnell den Tiefpunkt, wenn ihre und Papas Wege sich am frühen Morgen im Flur kreuzten.
    „Hat es wenigstens Spaß gemacht, das Ficken mit deinem neuen Macker?“ Papas Stimme klang vorwurfsvoll.
    „Ja, das hat es!“ Mama versuchte zu lächeln, doch das wollte ihr nicht gelingen.
    „Wir haben auch noch ein Kind, um dass sich jemand kümmern sollte. Willst du jetzt alles komplett mir überlassen und nur noch nachhause kommen, wie du lustig bist?“
    „Du hast gesagt, du kümmerst dich um die Kleine.“
    „Ja, das habe ich. Aber doch nicht jeden Tag, verdammt!“
    „So wie es ausschaut, habe ich eine Wohnung gefunden. Wenn alles klappt, nehme ich Samira mit, dann hast du Ruhe vor uns.“
    „Das Kind? Du willst mir das Kind wegnehmen?“
Mein Vater kochte innerlich. Außer sich im Zorneswahn, schrie er durch die Wohnung, was meine Mutter doch für eine erbärmliche Hure sei und was für ein Miststück er sich mit dieser Frau vor mehr als fünfzehn Jahren an Land gezogen hatte.
    „Das Kind nimmst du nur über meine Leiche mit, Miststück. Dass Samira mitkommst, das kannst du dir abschminken!“ Mein Vater schlug mit der Faust auf den Küchentisch. Sämtliche sich darauf befindlichen Teller und Tassen, hüpften einige Zentimeter über die Tischdecke.
Niemand von den Erwachsenen legte Wert darauf, ein kleines, unschuldiges Mädchen aus der Schusslinie eines fürchterlichen Machtkampfes zu nehmen. Ich saß am Tisch und sollte frühstücken, bevor es in die Schule ging. Unverschuldet geriet ich zwischen den Kugelhagel des Wortgefechts meiner Eltern, den ich in Panik aussitzen musste, weil mich niemand des Zimmers verwies.
Es schien ihnen beiden Spaß zu machen, dass ich zwischen den Fronten festhing. Mich ängstigten die gegenseitigen Beleidigungen und Hasstiraden zutiefst. Ich zitterte und weinte. Kraftausdrücke wie Hure, Wichser und Flittchen, peitschten mir um die Ohren.
Ich liebte beide, Mama und Papa!
    „Bitte, hört auf zu Streiten! Ich habe euch beide lieb“, schluchzte ich.
    „Dann geh mit deiner Mutter, wenn du mir jetzt auch noch in den Rücken fällst, du Scheißplage!“, schrie Papa.
    „Nein, ich will, dass Ihr zusammenbleibt! Ich will euch beide bei mir haben!“ Ein Meer aus Tränen flutete mein Gesicht. Für mich bedeutete eine mögliche Trennung meiner Eltern den Weltuntergang.
    „Das Kind gehört zur Mutter!“ Mama verschränkte die Arme vor ihrer Brust.  
    „Aber nicht, wenn diese nur rumhurt und sich durch die halbe Weltgeschichte vögelt. Das kann man wohl keinem Kind zumuten.“ Mein Vater ließ sich die Butter nicht vom Brot nehmen, wenn es darum ging, das letzte Wort zu haben.
    „Wenn du es im Bett nicht bringst, weil du zu sehr überarbeitet bist des Abends, musst du dich nicht wundern, dass ich dir fremdgehe.“
    „Dass ich es im Bett nicht bringe? Dass ich nicht lache!“ Mein Vater stand kurz vor der Explosion. Ich dachte, jeden Augenblick würde er Mama ins Gesicht schlagen.
    „Weißt du was? Ich habe keine Lust, ein Stück Fleisch anzufassen, dass ich mir mit zig anderen Hungrigen teilen soll. Nee, du hast recht. Da kriege ich dann auch tatsächlich keinen mehr hoch.“
    Mit der Faust schlug er noch einmal auf den Tisch, dieses Mal so kräftig, dass ein Glas zu Boden fiel und in Scherben zersprang. Seelenruhig nahm er seinen Aktenkoffer und verließ das Haus.


 

Die Entscheidung

Mama sprach täglich vom Auszug.
    „Ich halte das hier nicht länger aus! Welcher Teufel hat mich geritten, dieses Arschloch zu ehelichen?“ Während sie die Wohnung in Ordnung hielt und versuchte, den Tagesablauf zu regeln und ihr Make Up trotz einiger Tränen in Ordnung zu halten, fluchte sie ununterbrochen grausige Schimpfwörter und ließ kein gutes Haar an meinem Vater.
    „Ich will nicht ausziehen, Mama.“
    „Du hast dich nach dem zu richten, was die Erwachsenen wollen. Dich fragt niemand.“ Ihre Stimme klang kalt und herzlos.
    „Ich habe Papa lieb und dich auch!“
Ich wünschte, sie würde mich in ihre Arme nehmen, doch gewissenlos zeigte sie mir statt Zuneigung, die kalte Schulter. Den Wünschen und kindlichen Bedürfnissen schenkte sie keinerlei Beachtung.
    „Das ist gut so, dass du uns beide liebst. Wir haben dich schließlich auch lieb. Wenn Erwachsene sich nicht mehr vertragen, ist es wichtig, einen Strich unter die Beziehung zu ziehen. Kinder leiden unter Stress und Aggressionen. Sie werden krank und das möchtest du doch sicherlich nicht, krank werden oder?“
    „Nein, Mama.“
    „Na siehst du, dann hat sich die Diskussion erledigt.“
    „Wenn du ausziehst, möchte ich bei Papa bleiben!“, sagte ich traurig.
Zum bevorstehenden Auszug hatte ich mir Gedanken gemacht. Diese führten zu dem Entschluss, dass ich in meinem gewohnten Umfeld bleiben wollte.
Hier wohnten meine wenigen Freunde, hier gab es meine Spielsachen, mein Kinderzimmer, alles in diesem Haus war mir vertraut. Den gewohnten Ort meiner Kindheit zu verlassen, behagte mir nicht. Papas Verhalten konvenierte mir natürlich ebenso wenig, dennoch war ich sicher, es eher ertragen zu können, mich misshandeln zu lassen, als mit Mama in einer anderen Stadt einen Neuanfang zu starten. Ich wollte nicht aus meiner gewohnten Umgebung gerissen werden.
    „Du möchtest bitte was? Bei deinem Vater bleiben? Das glaube ich jetzt nicht.“ Die Augenlider meiner Mutter waren entsetzlich weit aufgerissen. Die Fassungslosigkeit stand in ihrem hageren, blassen Gesicht geschrieben. Damit hatte sie nicht gerechnet.
In Rage griff sie an meine Schultern und schüttelte mich beinahe bis zur Bewusstlosigkeit.
    „Du verdammtes kleines Biest. Willst du etwa genauso werden wie er? Du weißt ja gar nicht, was du da redest, von wegen, hier bleiben zu wollen! Schmink dir das ab, hörst du! Wenn ich eine passende Wohnung finde, verschwinden wir beide von hier. Ob du willst oder nicht, das ist einzig und allein meine Entscheidung. Ich bin deine Mutter und Erziehungsberechtigte, basta!“
    Am Abend belauschte ich ein weiteres Streitgespräch zwischen meinen Eltern. Seit Mama von Trennung, Ortswechsel und neuer Wohnung sprach, wollte ich keine Neuigkeit und kein Detail selbigen Gesprächsthemas verpassen. Einerseits hoffte ich nicht, dass sie tatsächlich ernst machte und auszöge, andererseits wollte ich nicht, dass sie mich falls doch, mitnähme.
Die Sorge, mich für ein Elternteil entscheiden zu müssen, bei wem ich im Falle der Trennung bleiben wollte, machte mich krank vor Sorge.
    „Was hast du nur mit dem Kind gemacht? Die Kleine will anscheinend tatsächlich bei dir bleiben, während ich hier die Biege machen will!“ Mama klang verärgert, innerlich auch verzweifelt. Mein Verhalten vom Vormittag tat mir schon wieder leid. Die Tränen kullerten entlang meiner Wangen, doch alles Weinen half nichts. Die Erwachsenen dachten nicht daran, mit ihrem Zynismus und den Hasstiraden aus Rücksicht auf meiner eins, aufzuhören. Sie merkten nicht, wie sehr sie mit ihren Scheuklappen beschäftigt waren und das zarte Innenleben ihrer Tochter zerstörten.  
    „Im Gegensatz zu dir, habe ich mich in der letzten Zeit mit Samira beschäftigt. Habe mich um sie und ihre Bedürfnisse gekümmert. Dem Mädchen Liebe und Aufmerksamkeiten geschenkt. Ich denke, das ist das Wichtigste für ein Kind, dass es sich ernstgenommen fühlt, gerade in dem Alter.
    „Als ob du dich in Kindererziehung auskennen oder irgendjemanden aus unserer Familie lieben würdest“ Mama lachte abwertend.
    „Anscheinend liegt mir das mit der Erziehung besser als dir! Und ja, ich liebe euch beide“, konterte Papa. Zunächst einmal herrschte Ruhe.
Mit der Aussage des Liebens hatte Mama nicht gerechnet. Ich schöpfte Hoffnung.
    „Spar dir das. Mich musst du nicht lieben. Mit deinem Liebesbekenntnis kommst du außerdem einige Jahre zu spät.“
    „Wenn Samira freiwillig bei mir bleiben möchte, dann wissen wir doch beide Bescheid, wie der Hase läuft, oder etwa nicht?“ Papa suchte nach seiner Fassung. Er bemühte sich, nicht laut zu werden. Die Verzweiflung nagte an ihm, das spürte ich.
    „Ich habe eine Wohnung in die engere Auswahl genommen. Sobald die Vormieter alles ausgeräumt und Ordnung geschafft haben, sammele ich meine wichtigsten Sachen ein und bin verschwunden. Weg, raus aus dem Elend! Und wenn ich nur im Hemdchen bekleidet, barfuß über die Straße verschwinden muss, um mein Glück zu finden, so will ich jede Qual auf mich nehmen.“
    „Schaust du eigentlich gar nicht zurück? Willst du nicht genau wie ich, hinter deinem Rücken nachsehen oder hinter die Fassaden unserer Ehe blicken? Tust du es nicht, weil du zu feige bist? Siehst du nicht, was wir uns in all den Jahren mühsam aufgebaut haben? Die Villa, die Autos, der Garten, all das war einmal unser Traum! Der Traum vom Eigenheim, für den wir mehr als hart gearbeitet haben. Erinnerst du dich denn gar nicht? Wir lebten von der Hand in den Mund und haben es trotzdem geschafft, haben uns hochgearbeitet. Wir haben es zu etwas gebracht, Marie! Warum schmeißt du das alles so lieblos weg und tust gerade so, als ginge dich alles nichts mehr an? Warum? Liebst du mich denn gar nicht mehr?“
    Mein Vater wischte salzige Tränen aus seinem unrasierten Gesicht. Er wirkte niedergeschlagen, energielos und nervlich am Ende. Erschrocken über die Gefühle meines Vaters, den ich stets gefasst und besonnen erlebt hatte, vernahm ich sein klägliches Schluchzen. Das passierte selten, dass es ihm den Boden unter den Füßen wegriss.
    „Dein Heulen kommt zu spät.“ Mama wirkte kühl.
Ließ sich von den Tränen meines Vaters nicht mehr beeindrucken.
    „Ich werde in den nächsten Tagen öfter unterwegs sein, nur, damit du Bescheid weißt. Will mir die Wohnung mit Robert zusammen einrichten und wohnlich hübsch zurechtmachen. Das wird eine Umstellung werden für mich, von knapp 350 Quadratmeter auf 80 runter zu fallen, aber egal. Eine Verschlechterung meiner Lebenssituation sondergleichen, aber das ist es mir wert. Hier halten mich keine zehn Pferde mehr.“
    „Robert? Dein neuer Macker?“
    „Ja, mein neuer Macker, wenn du so willst. Er hilft mir beim Umzug. Aber keine Sorge, die Wohnung werde ich mit Samira alleine bewohnen. Ich möchte dem Kind keinen neuen Vater zumuten. Nicht in der derzeitigen Verfassung des Mädchens. Es leidet sehr unter den ehelichen Problemen, die wir über ihren Kopf hinweg austragen. Ihr könnt euch übrigens immer sehen, du und Samira, da müssen wir uns, denke ich, gerichtlich nicht auch noch um das Aufenthaltsbestimmungsrecht streiten oder?“
    „Das kommt gar nicht infrage. Ich werde dir unsere Tochter auf gar keinen Fall mitgeben. Was soll das Mädchen in einer kleinen Wohnung, mitten in der Stadt oder was weiß ich wo, wenn es hier seine Freunde, sein zu Hause und alles andere hat?“
    „Freunde? Du erlaubst dem Mädchen doch gar nicht, Freunde zu haben! Dass ich nicht lache!“
    „Ob du lachst oder nicht. Samira bleibt hier und fertig. Da kannst du dich auf den Kopf stellen. Das Kind hat hier die besten Möglichkeiten, sich normal zu entwickeln. Aber keine Sorge, du kannst sie jederzeit sehen. Ich bin der Letzte, der dir Steine in den Weg legt. Ich will nur das Beste für unser einziges Kind. Es sei denn, der Richter verurteilt mich als schlechten Vater. Das können wir gerne draufankommen lassen. Sollte es ein Gerichtsurteil über den Aufenthaltsbestimmungsort unserer Tochter geben, der auf richterliche Anweisung hin, tatsächlich bei dir liegt, was ich für unmöglich halte, okay, dann hast du gewonnen.“
    „Du willst es tatsächlich drauf ankommen lassen, wer hier die Hosen anhat und sprichst vom Gewinnen?“
    „Das hat mit Hosen anhaben nichts zu tun. Du hast gar keine Zeit für dein Kind. Du kümmerst dich doch jetzt schon nicht um das Mädchen. Wie soll das werden, wenn Samira bei dir wohnt? Soll sie in der Gosse landen?“
    „Ich kümmere mich nicht, weil ich dir nicht in die Erziehung reinreden möchte, Jürgen. Ein Kind gehört immer zu seiner Mutter. Da wird mir jeder Richter recht geben. Also erspare uns bitte dein Dummgeschwätz und weitere Details.“
Mama klang überzeugender und resoluter als Papa. Anscheinend hatte sie ihre Pläne längst in trockenen Tüchern.
    „Dann nimm dir meinetwegen einen Anwalt.“ Papa seufzte.
    „Wenn du möchtest, dass wir uns über den Kopf unseres Kindes hinweg streiten, dann bleibt mir wohl keine andere Wahl, als den Rechtsweg zu gehen.“
Damit war die Diskussion über den Werdegang meines weiteren Lebens beendet und alles Weitere sollte zur Klärung dem Advokaten vorgelegt werden.
Mama machte auf dem Absatz kehrt, nahm ihre Sachen von der Garderobe und stieg draußen in den Wagen ein. Den Motor ließ sie provakant laut aufheulen.
Wie jeden Abend, würde sie vor dem nächsten Morgen nicht zurückkehren.
    Ich lag die Nacht über weinend im Bett. Heulte mich in den Schlaf, während Papa weiterhin zum Alkohol griff, um in ihm den nötigen Trost zu finden und seinen Kummer runterzuspülen. Später hörte ich ihn laut die Treppen hinaufstolpern. Jetzt würde er sich seine Liebkosungen abholen.
    „Bist du noch wach!“ Es klopfte an meiner Tür.
Verschlafen nuschelte ich ein leises und verzweifeltes: „Ja“.
Die Tür flog lautstark auf. Mein Vater taumelte im Dunkeln ins Kinderzimmer. Seufzend und stark alkoholisiert, plumpste er auf den Bettrand. Beinahe wäre er zu Boden gefallen. Er lachte in seinem Ungeschick über sich selbst, seine Stimme klang jedoch befremdlich.
    „Ich will nicht, dass du mit der Mama fortgehst“, lallte er. Mit einem Male war ich wach. Hatte ich die böse Überraschung mit Mamas Auszug für wenigstens zwei Stunden Schlaf verdrängt, holte Papa mich auf den harten Boden der Tatsachen zurück. 
    „Du sollst hierbleiben! Hier, bei mir!“ Papa griff nach dem Schränkchen neben dem Bett, auf dem meine kleine Tischlampe stand. Mit zittriger Hand suchte er nach der Strippe, um den daran befindlichen Schalter einzuschalten.
    „Ich will dich sehen, wenn ich mit dir rede!“, sagte er monoton. Ein Klicken und im Zimmer wurde es taghell.
Unsanft schob er das Oberbett beiseite. Ohne weitere Andeutungen, griff er an mein Schlafanzugoberteil und schob auch dieses bis ganz nach oben unter mein Kinn.
Seine Hand legte sich bestimmend auf meinen Oberkörper. Unsanft strich sie mit den Fingerkuppen in mehreren Kreisen über meine winzigen Brustwarzen. Die raue, hornhäutige Handfläche tat meiner Haut nicht gut. Es zwickte und ich zuckte unter den mechanischen Berührungen. Papas erregtes Schnaufen ängstigte mich.
    „Du vibrierst ja richtig!“, murmelte er.
    „Bitte nicht!“, wimmerte ich.
    „Bitte nicht, bitte nicht!“, äffte Papa. Er war ohne Mitleid für meine Ängste.
    „Das gehört mir! Und was mir gehört, damit mache ich, was ich will. Verstanden? Niemand wird mir mehr Vorschriften machen, was ich zu tun und zu lassen habe. Weder du, noch deine Mutter. Ich habe euch meine Liebe gegeben. Und mein Geld hat deine Mutter außerdem bekommen. Meine Girokarte, die steckt in ihrem Portemonnaie. Kannst du dir das vorstellen? Meine Bankkarte findet sich in ihrer Geldbörse! Da drücke ich der Alten meine Karte in die Hand und sie lädt wahrscheinlich ihren neuen Liebhaber ins beste Restaurant der Stadt ein und bezahlt mit meinem sauerverdienten Geld. Zum Dank verpasst sie mir einen Arschtritt nach dem anderen. Ich gebe euch alles was Ihr wollt, maloche mich krumm und soll keinerlei Rechte haben, etwas bestimmen zu dürfen, was meine eigene Familie betrifft? Wer will mir, dem Oberhaupt des Ganzen hier, bitteschön Vorschriften machen? Du etwa? Ein dahergelaufener Dreikäsehoch? Kein Arsch, kein Tittchen, siehst aus wie Schneeflittchen und riskierst große Fresse? Und deine Mutter, die olle Kuh? Nur weil sie ein fettes Euter hat, meint sie mich beim Bock tun zu müssen und auf die Hörner nehmen zu können? Was will sie überhaupt, die olle Schachtel? Soll sie bei ihrem Sonnyboy einziehen und dem das Geld aus der Tasche luchsen.“
    Die Hand meines Vaters wanderte ungefragt in meine Schlafanzughose. Nachdem er mit seiner ausgiebigen Rede und Anklage, die Mama galt, seinen Frust abgeladen hatte, suchte er Befriedigung an meinem Körper.
Zwei Finger berührten mich grob an jener besonderen Stelle, an der sie mich nie zuvor berührten, und an der sie nichts zu suchen hatten. Erschrocken zuckte ich zusammen, als sie rhythmisch meinen Schamhügel umkreisten. Papa beugte sich über mich. Seine Fahne drang in meine Nasenlöcher. Sabber aus seinem nach Bier stinkenden Mund tropfte auf meine Lippen. Seine legten sich bedrohlich nahe an meine Ohrmuschel und sprachen unverständliche Fäkalausdrücke. Mich ekelte es. Im Flüsterton brabbelte er:
    „Ich nehme, was mir gehört! Hast du das verstanden, du dreckige Ratte? Hast du das kapiert, kleines, sündiges Mädchen?“ Er schubste mich grob.
    „Ja, Papa!“
In der Nacht hatte ich Glück. Er war zu müde, als dass er sich noch ausgiebiger mit mir und meinem Körper beschäftigen wollte.
Erschöpft und zu betrunken, das sexuelle Spielchen auszuweiten, gab er schließlich schimpfend auf. Torkelnd verschwand er mit einigen Kraftausdrücken, in der Dunkelheit des Flurs. Die Tür zum Schlafzimmer fiel ächzend ins Schloss.
Am nächsten Morgen weckte mich niemand.
Zu meinem Unglück verschlief ich das Läuten des Weckers.
Gegen acht Uhr sprang ich wie ein angeschossenes Reh aus dem Bett. Ich hatte verschlafen!
    „Mama! Papa!“, rief ich aufgebracht. Keine Antwort!
Ich war es gewohnt, morgens geweckt zu werden. Mama stellte mir meinst das Frühstück unten in der Küche auf den Tisch und Papa fragte oft, ob er mich zur Schule fahren sollte. Heute blieb alles still. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.
Ich lief zum Fenster. Von hier aus konnte ich in die Einfahrt und in den Garten schauen. Mamas Auto stand nicht in der Einfahrt. Der Geländewagen von Papa wohl, von ihm fehlte jedoch jede Spur. Manchmal, bei gutem Wetter, saß er entweder früh morgens im Garten oder auf der Loggia, doch wo ich auch nachschaute, es herrschte beängstigende Stille. Vorsichtig klopfte ich an die Tür des Elternschlafzimmers. Kein „Herein.“ Ich öffnete. Schnarchend lag mein Vater im Bett. Quer über zwei Matratzen liegend, schlief er seinen Rausch aus.
In Eile zog ich meine Kleidung über. Nahm ohne zu frühstücken den Schulranzen und verließ im Laufschritt das Haus. Mit mehr als einer Unterrichtsstunde Verspätung, traf ich völlig außer Atem im Schulunterricht ein.
Es war mir peinlich und sehr unangenehm, der Lehrerin Rede und Antwort stehen zu müssen. Dass ich verschlafen hatte, tat mir schrecklich leid.
    „Samira! Was ist passiert? Bist du etwa den ganzen Weg hier hergerannt? Du bist ja total aus der Puste!“, sagte die Lehrerin mitleidsvoll.
    „Nichts ist passiert!“, log ich. Mit meinen Tränen hatte ich arg zu kämpfen. Wie gern hätte ich einem Menschen von meinen Problemen erzählt, mich ihm anvertraut und in seine Arme geworfen.
    „Ich habe verschlafen, es tut mir leid!“, stammelte ich. Ich traute mich nicht der Lehrerin zu sagen, dass mein Vater besoffen im Bett lag und meine Mutter sich durch fremde Betten vögelte, während für mich niemand mehr Zeit hatte.
    „Und bei dir daheim ist wirklich alles in Ordnung?“ Bei der Frage traf es mich schon arg. Ich zuckte zusammen, wollte mir jedoch nichts anmerken lassen.
    „Ja!“, nickte ich.  
Nach dem Unterricht erwartete mich zu Hause ein Donnerwetter.
    „Du hast verschlafen? Einfach so?“ Papa tobte vor Wut. Mir war klar, die Lehrerin hatte ihn angerufen.
    „Ja, ich war müde. Erinnerst du dich nicht, dass du die Nacht bei mir warst und ich deshalb nicht schlafen konnte?“
    „Ich war bei dir? Aha. Und, was habe ich gemacht? Los, rede. Was soll ich gemacht haben, in deinem Zimmer?“ Mein Vater schubste mich erbost. Eine Klatsche setzte es gegen meinen Hinterkopf. Mir leuchtete ein, mit der Wahrheit würde ich ihn nicht überzeugen können. Die wollte er nicht hören.
 Die Bilder in meinem Kopfkino fuhren Achterbahn.
Was sollte ich ihm antworten? Hatte er so etwas wie Liebe mit mir machen wollen oder hätte er gegen meinen Willen vielleicht etwas noch viel Schlimmeres getan, über das ich jetzt besser kein Wort verlor?
    „Rede, was soll ich in deinem Zimmer getan haben, Tochter? Ich kann mich nicht erinnern, dich grundlos in der Nacht geweckt zu haben. Also verbitte ich mir solche Frechheiten.“ Seine Stimme klang überzeugend.
Wollte er sich nicht erinnern oder konnte er es tatsächlich nicht? War das so, wenn man getrunken hatte, dass man sich an nichts erinnerte und den Bezug zur Realität verlor?

Papas tätlichen Übergriffe nahmen im Laufe der Zeit überhand. Ich war längst nicht mehr das kleine Mädchen, das man zu jedem Anlass auf den Schoß nahm. Doch mein Vater hielt es für notwendig, dies zu tun, um allen anwesenden Menschen seine ehrliche, aufrichtige Liebe gegenüber mir, seinem einzigen Kind zu zeigen.
    Während in mir alles danach schrie, dass er mich loslassen sollte und ich alles dafür tat, dass es so geschah, ich ihn sogar gegen das Schienbein trat, so hatte ich das Gefühl, er fand es toll, wenn ich unter seinen Berührungen ausflippte und zappelte.
So fest ich strampelte und ihn manchmal sogar in den Arm biss, so blieb mir meist keine Chance, dem gewaltvollen Griff zu entkommen.
    „Kleiner Wildfang!“, lachte er. Dass er sich über mich und meine Gefühle lustig machte, fand ich sehr schlimm.
Meist kitzelte er entlang meines Rippenbogens oder unter den Achselhöhlen, wenn ich mich seinen Angriffen zur Wehr setzte.
Ich musste Lachen, obwohl mir zum Heulen zumute war. Ein gequältes, trauriges Kinderlachen, für das sich niemand der Gäste interessierte.
Gewusst wie, schauspielerte Papa die für mich bedrückende Situation unter den Anwesenden perfekt zu seinem Vorteil.
Weder auf Familienfeiern, Geburtstagen noch zu anderen Anlässen, auf denen er seine krankhafte Zuneigung, kleinen Mädchen gegenüber besonders liebevoll zu sein, zum Besten gab, äußerte sich jemand abfällig über sein widerliches Verhalten. Als treusorgenden Familienvater präsentierte er sich. Seine dreckige Weste, die er mit einem Lächeln und Augenzwinkern für sämtliche Betrachter des vermeintlichen Übels, immer wieder blitzblank weißwusch, trug er nur zu gern. Ich war Daddys Darling, wie er mich vor versammelter Mannschaft nannte.
War es das Aftershave, das ich irgendwann nicht mehr riechen mochte, weil ich sogleich mit meinen Ängsten konfrontiert wurde, sobald die herbe Nuance in meine Nase stieg oder war es der lüsterne Blick, mit dem er mich anvisierte und auszog, vor dem ich mich am meisten fürchtete?
    „Als du kleiner warst, hast du es gern gemocht, wenn ich nach dem Zeugs gerochen habe. Deshalb habe ich es heute extra für dich aufgelegt!“ Mein Vater lachte.
Seine Blicke straften mich, weil ich mir die Nase zuhielt, sobald er sich in meine Nähe schlich.
Kindliche Intuition, sich durch das Zuhalten der Nasenlöcher vor weiteren Missetaten zu schützen? Es müsste ihm doch peinlich sein oder? Aber nein, meinem Vater war rein gar nichts peinlich.
    Unwissentlich triggerte mich der markante Männerduft.
Mit ihm assoziierte ich unsittliche Berührungen, die gegen meinen Willen stattfanden. Mein Vater fasste mich immer genau dann an, wenn er zuvor dieses grässliche Zeugs aufgelegt hatte. Für mich wurde es zur Tortur, dass er mir seine Nähe und Zuneigungen mehr als deutlich zeigte.
Von klein auf an kannte ich es nicht anders, dass er liebevoll war. Aber dass er jetzt mit zwei Fingern durch mein Haar wuselte und seine Hand das ein oder andere Mal flüchtig zwischen meine Schenkel wanderte, um mich an Stellen zu streicheln, an denen es für mich befremdlich und unangenehm war, war mir neu.
    Ebenso neu war es, dass, wenn er mich zu sich auf den Schoß nahm, ich einen harten Gegenstand an meinen Popbacken spürte. Etwas, das ich zunächst nicht zuordnen konnte und später aus Erfahrung lernte, dass es sein Penis war, den er an meinem Gesäß rieb.
Es geschah bei uns zuhause und auf Familienfeiern, dass ich die Ausbeulung hinter der Reißverschlussleiste des teuren Designeranzugs an meiner Scham oder im Gesäßbereich spürte.
Mein Vater machte hinsichtlich seines widerwärtigen Benehmens keinen Unterschied, ob er sich in Gesellschaft befand oder wir allein waren.
    Zwischen den Verwandten mochte ich mich seinen Taten allerdings nicht zur Wehr setzen.
Eingeschüchtert, hielt ich meinen Mund und blieb auch ganz still, wenn er mich in seine Arme nahm.
    Geschickt bläute er mir ein, dass es unerzogen sei, sich den Liebkosungen Erwachsener zu entziehen und sie abzulehnen.
Egal, ob in der Öffentlichkeit oder innerhalb der Familie, es gehöre sich nicht, Freundlichkeiten mit Füßen zu treten. Seine Erziehungsmethoden waren unmissverständlich und sehr wirkungsvoll. Es war Folter für meine Seele, wie er mich behandelte.
    „Du weißt noch nichts von der schönsten Sache der Welt. Bist zu klein. Aber ich werde dich lehren, was es heißt, geliebt zu werden und was es bedeutet, jemanden zu lieben“, sagte er.
    „Du musst Opfer bringen, Samira! Opfer!“
    Natürlich verstand ich seine Worte nicht und auch in Sachen Liebe kannte ich mich nicht aus. Wenn ich mich aus seinem Griff losstrampelte und gegen körperliche Nähe wehrte, bestrafte er mich anschließend und das seit Neuestem gewaltvoll.
Zunächst ließ er seine Wut, dass ich mich seinen Liebkosungen widersetzte, an toten Gegenständen aus. Meinem geliebten Teddybären schnitt er mit der Heckenschere direkt vor meinen Augen den Kopf ab. Entsetzt und unter Schock stehend, schrie ich wie Spieß.
    „Wer nicht hören will, muss fühlen!“, sagte er gleichgültig. Herzlos trug er das für widerliche Zwecke ungeeignete Werkzeug zurück in die Garage, während ich verzweifelt das kopflose Steiftier in meinen Händen hielt und bittere Tränen um den Verlust weinte.
    „Wenn du lieb zu Daddy bist, kauft er dir vielleicht
einen neuen Teddybären!“, sagte er. Weil ich seinen Penis nicht in die Hand nehmen wollte, erledigte er das, indem er sich vor meinen Augen selbst befriedigte. Als ich beschämt wegsah, schrie er mich an: „Sieh hin!“
Die Vorhaut zog er rauf und runter und onanierte schließlich auf einen meiner weiteren Teddybären.  
Mein Vater lächelte heroisch während sich der Samen auf das Fell des Stofftieres verteilte. Ich heulte wie ein Schlosshund.
    „Hör auf zu Flennen, ansonsten gebe ich dir mal einen Grund zum Weinen, Prinzessin.“
Mit theatralischen Worten, die mir die Luft zum Atmen nahmen, ließ er mich in meinem Kummer allein.
Meine Tränen interessierten ihn nicht.
Es hätte auch keinen Zweck gehabt, mich wütend vor ihm auf den Boden zu schmeißen und auf dem Linoleum hin und her zu wälzen, um meine Verzweiflung zum Ausdruck zu bringen. Widerworte und Frechheiten duldete mein Vater keine. Meine Mutter sah über das schäbige Verhalten meines Vaters kommentarlos hinweg.
Kampflos überließ sie ihm die Erziehung, weil sie mit der Wohnungssuche und Einrichtung selbiger beschäftigt war. Somit sagte sie zu allem ja und amen.
Außer zu der Sache mit dem Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht, da übte sie den großen Aufstand.     
    „Wenn du meinst, unser Kind mit Gewalt erziehen zu müssen, dann muss auch ich andere Saiten mit dir aufziehen!“, sagte sie.
    „Alles heiße Luft!“, blökte Papa. Er ließ sich mit Worten nicht einschüchtern.
    „Seit einem Jahr erzählst du von der Wohnung. Wo ist sie denn, die neue Bude? Und wo ist dein feiner Herr Robert, der Loser? Hat er dich schon abgeschossen und mit der Bude, das ist nur noch Fake?“ Papa lachte abfällig.
    „Ja, lach ruhig. Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall!“, sagte Mama.
Mit neun Jahren ging es los, dass ich mich vor den Augen meines Vaters regelmäßig aus- und anziehen sollte.
Sobald Mama das Haus verließ, schlug mein Herz auf der höchsten Stufe des Erträglichen. Ich wusste genau, was mich erwartete, sobald Mama dem Papa und mir den Rücken kehrte. Erschreckend schnell lernte ich die grauenvollen Abläufe im Kopf der Erwachsenen kennen, die mit Gewalt jegliche Art von Macht an sich riss und im Gang über Leichen, für seine Rechte beanspruchte.
Ich wusste genau, was mein Vater verlangte und ich fürchtete mich, eines Tages seinen Drohgebärden nicht mehr zu entkommen. Vielleicht würde er im Alkoholrausch meinen Kopf abschneiden? Ich lebte in den wildesten Illusionen eines grässlichen Horrorfilms, in dem ich die Hauptrolle spielte.
    Mucksmäuschenstill blieb ich im Kleiderschrank sitzen, sobald unten die Haustür ins Schloss fiel, weil Mama zum Einkaufen fuhr, sich mit ihren Freundinnen verabredete oder noch etwas für den Umzug zu regeln hatte. Mich nahm sie generell nicht mit, denn Papa hatte versprochen, auf mich aufzupassen.
    „Ich will dich entlasten. Der Haushalt, das Kind, der Umzug, du hast eine Menge Arbeit am Hals und das wird dir alles zu viel. Heute bin ich dran. Ich kümmere mich um alles und du machst dir einen schönen Tag. Genieße die freie Zeit!“, sagte Papa euphorisch. Mit seinen geschwollenen Worten bezweckte er nichts weiter, als Mama einzulullen, dass sie es sich vielleicht doch noch überlegte, nicht auszuziehen. Ich spürte genau, wie sehr mein Vater an meiner Mutter hing.
Dass sie ihn verlassen wollte, widersprach seiner Vorstellung von Ehre und den guten Schein nach außen hin, den wollte er nur zu gern wahren. Dass dies mit seinem Hang zum Alkohol nahezu unmöglich wäre, wollte er allerdings nicht einsehen.
    „Meinst du, du kommst mit dem Kind klar, wenn ich nicht da bin?“ Meine Mutter hegte neuerdings gewisse Zweifel an den Erziehungsmethoden meines Vaters, obwohl es ihr bisher egal war, was aus mir werden sollte, wenn sie fortging und mich zurückließ. Vielleicht hatte ihr jemand Bescheid gesagt, einen Wink mit dem Zaunpfahl gegeben, dass ihr Mann das gemeinsame Kind unsittlich anfasste? Genügend Leuten waren Zeugen gewisser Vorfälle geworden. Ob diese allerdings den tatsächlichen Sachverhalt richtig interpretierten …?
Vielleicht war es aber auch Intuition, das Papa schlimme Dinge mit mir veranstalten könnte, wenn niemand hinsah, sobald sie das Haus verließ.
Vielleicht gab es so etwas wie Pflichtgefühle und Verantwortungsbewusstsein im Herzen meiner Mutter, ihre Tochter nicht einem ungewissen Schicksal überlassen zu wollen?
    „Kommt Ihr wirklich alleine klar, Samira?“
Noch bevor ich die Frage beantworten konnte, schenkte mein Vater mir einen Blick, vor dem ich bildlich gesehen, wie ein angeschossener Hund zu Boden ging. Ich würde meinen Mund halten müssen.
Am liebsten hätte ich meine Mutter angefleht, mich mitzunehmen. Nur fort von zu Hause. Wohin auch immer sie ginge, alles wäre mir lieb und recht gewesen, nur nicht daheim alleine, mit Papa zurückbleiben zu müssen. So weit war es mittlerweile gekommen. Ich bereute meine Aussage, nicht mit ihr gehen zu wollen, sollte es zum Auszug kommen, zutiefst. Wie sollte ich das wieder richtigstellen?
Ich wollte weder Mama noch Papa mit Worten verletzen. Und ich wollte keinen von beiden verlieren. Irgendwie gewann ich den Eindruck, dass ich mich auf dem besten Wege befand, dass mir der Boden unter den Füßen weggerissen wurde.
    „Ja, wir kommen klar!“, wisperte ich.
Mein Vater lachte mich erleichtert an.
Einen Augenblick lang schien es, als wartete er nur auf eine falsche Antwort von mir, weil er sich die für sich richtige, längst zurechtgelegt hatte und nur zu gern mit dieser hinauswollte, um Mama einen Stich ins Herz zu verpassen.
Direkt nachdem sie: „Tschüss Ihr zwei!“, sagte, hastete ich die Treppen hinauf und verschwand in meinem Zimmer. Geschickt warf ich mich auf den Boden und rollte mich unter das Bett. Kurz darauf hörte ich die Stimme meines Vaters im Treppenhaus nach mir rufen.    
     „Samira mein Engel, komm zu Daddy!“
Mit Schnappatmung lag ich zusammengekauert unter dem Lattenrost, während mein Vater das Treppenhaus hinaufschritt. Meine Arme, mächtig des Willens, mich unsichtbar machen zu wollen, umschlossen die angewinkelten Knie. Meine Angst war unbeschreiblich. Papa sollte mich nicht zu fassen kriegen.

„Bitte lieber Gott, lass ihn nicht meinen Brustkorb streicheln oder mich im Schritt berühren.“
   
    Das Kinn drückte ich so fest ich konnte, gegen meine Brust. Ich versuchte mich so klein wie möglich zu machen und keinerlei Geräusche von mir zu geben, um von ihm nicht entdeckt zu werden. Unter dem Bett fühlte ich mich sicher, obwohl meine Not unbeschreiblich groß war.
Die Tür meines Zimmers öffnete sich.
Der Lichtstrahl aus dem Flur fiel genau bis unter das Bett. Langsam trat mein Peiniger mit schweren Schritten und laut atmend, über die Schwelle. Verräterisch fiel die Tür hinter ihm zurück in den Rahmen.
Schnaufende Atemgeräusche beunruhigten mich.
Geh weg. Geh bitte weg!
Jetzt stand er direkt vor dem Bett und aus Angst glaubte ich sterben zu müssen.
    „Schätzchen, wollen wir etwa wieder Verstecken spielen? Nicht doch! Komm, Mäuschen, mach mal Piep!“
Ich zitterte. Wellen aus Adrenalin und Panik schüttelten meinen schmächtigen Körper zugleich.
    Mit einem Ächzen ging Papa in die Hocke und zu allem Übel der Peinlichkeiten, entwich ihm ein Furz, über den er lachte. Ich verlor immer mehr den Respekt und meine Achtung vor ihm, während die Furcht meinen Körper durchschüttelte. Mit dem dumpfen Poltern seiner mächtigen Statue, deren Gewicht den Boden unter uns vibrieren ließ, legte sich sein behäbiger Körper neben dem Bett nieder. Dunkle, weit aufgerissene Augen im glattrasierten Gesicht, funkelten kaltblütig ins Nichts.
Seine Hand streckte sich nach mir aus. Beinahe hätte sie mich erwischt. Wie beim Topfschlagen, klatschte sie mehrere Male auf den Boden.
    „Hast du dich etwa unter dem Bett versteckt, du kleines Miststück? Los, komm da raus!“
Seine Stimme klang sonderbar aber noch freundlich.
Anscheinend war er sich seiner Sache nicht sicher, ob ich tatsächlich unter dem Lattenrost kauerte. 
Weil ich ihm nicht gleich antwortete, schlug die Stimmlage plötzlich in Boshaftigkeit um.
    „Du machst Daddy jetzt aber echt wütend, Schätzchen!“ Jetzt hatte er meinen Fuß mitsamt Knöchel erwischt.
Besitzergreifend krallte sich seine Hand an meine Wade. Mit aller Kraft versuchte er meinen rechten Unterschenkel unter dem Bett hervorzuziehen. In meiner Not trat ich mit dem freien Fuß nach ihm und schrie hysterisch: „Nein! Nein, nein!“
    „Du trittst nach mir? Na warte, dir werde ich helfen!“ Der Griff an meiner Wade verfestigte sich, bis es schmerzte. Entsetzt schrie ich auf.
    „Willst du jetzt gehorchen, Fräulein? Komm. Da. Raus. Verdammt!“
    „Ja!“, wimmerte ich.
Auf dem Bauch robbte ich unter meinem Versteck hervor. Krabbelte direkt in die offenen Arme meines Vaters, der mich am Schlafittchen schneller auf die Beine zog, als dass ich ihm hätte entwischen können.
    „Satan! Dir werde ich helfen!“
Grob packte er meine Beine. Meinen schmächtigen Körper warf er wie ein Paket über seine breiten Schultern.
Huckepack trug er mich ins Badezimmer die Treppe hinunter. Brutal, unter einem miesen Lachen, ließ er mich in die Badewanne fallen. Mit dem Kopf schlug ich gegen das Stahlbecken. Einen Moment lang glaubte ich ohnmächtig zu werden. Die Sterne sah ich funkeln. Mit der rechten Hand nahm er die Brause, während seine linke meinen Oberkörper an den Beckenrand drückte, damit mir keine Chance blieb, dem Wasserstrahl zu entkommen.
    „Wie hast du es denn gern? Kalt oder warm? Ach weißt du was, wir machen Kneipsche Güsse. Soll sehr gesund sein. Abwechselnd heiß und kalt.“ Mein Vater hantierte lachend an der Brause.
Die Angst in meinem Blick interessierte ihn nicht, während eisiges Wasser in mein Gesicht spritzte. Je mehr ich mich in meiner Not aus dem Griff zu lösen versuchte, desto härter traf mich der Strahl, weil Papa die Stärke des Wassers bis zum Unerträglichen aufdrehte.
    Unter Todesängsten rang ich nach Luft.
Während mein Körper den aussichtslosen Kampf nach einigen Minuten Hölle aufzugeben schien, um Barmherzigkeit zu erfahren, drehte Papa den Hahn von blau auf Rot. Unter Schmerzen schrie ich auf und um Hilfe. Als wäre es nicht Strafe genug, das heiße Wasser auf meiner Kleidung ertragen zu müssen, riss er meinen Pullover mitsamt dem Hemdchen darunter, über meinen Kopf. Den Strahl richtete er auf meinen nackten Oberkörper.
Lachend und im Sekundentakt, drehte er den Hahn von links auf rechts. Heiß und kalt, kalt und heiß traf es mich, nahezu so, wie ihm beliebte.
Als ich unter der Folter bewusstlos zu werden gedrohte, ließ er von mir ab. Befehlshaberisch forderte er mich auf, die Wanne zu verlassen. Unliebsam griff er unter meine Arme. Das Abtrocknen mit dem Handtuch wollte er sich nicht nehmen lassen. Während er grob meine Haut bearbeitete, regneten seine Hasstiraden über mich herein.
    „Du bist so ein richtiger Waschlappen. Mädchen eben. Verträgst gar nichts. Soll ich dir mal was sagen?“
Seufzend setzte er sich auf den Badewannenrand. Die Brause hing er in die Vorrichtung. Die Hände legte er in den Schoß, während er mit der Zungenspitze die Wange von innen ausbeulte und meinen nackten Körper betrachtete.  
    „Wenn du in diesem Leben bestehen willst, dann musst du hart an dir arbeiten. Ganz hart. Ich kann dir zeigen, wie es geht. Und glaube mir, ich mache das nur, weil ich dich liebe. Ich will nicht, dass du an der Kälte dieser Welt zugrunde gehst. Ich härte dich schon noch ab. Eines Tages wirst du mir dankbar sein, dass ich dich durch die harte Schule des Lebens geschickt habe. Es ist alles in Ordnung, sei beruhigt. Mein Alter hat mich auch so erzogen und sieh dir an, was aus mir geworden ist! Na, was ist aus mir geworden, Püppi? Komm, sag du es mir!“
    Ich schluckte. Mühsam versuchte ich einen unbeweglichen Kloß in meiner Kehle hinunter zu würgen, der dort nicht hingehörte. Ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich sagen sollte. Außerdem bekam ich kaum noch Luft- so viel Wasser hatte ich geschluckt.
    „Für die Antwort bist du wahrscheinlich noch zu klein. Heute brauchst du mir die Frage nicht beantworten. Aber wirst sehen, in zwei, drei Jahren, da weißt du Bescheid, wie die Dinge laufen im Leben. So, und jetzt verschwinde! Ab mit dir. Weil du unerzogen warst, geht es für dich ohne Abendbrot ins Bett. Und wage es nicht, deiner Mutter von unserer kleinen Badesession zu erzählen. Du weißt, was dir blüht, wenn du ihr von unseren Geheimnissen beichtest?“
    Ich nickte. Ja, das wusste ich. Bläute mein Vater mir doch oft genug ein, für jede Lüge, die ich Mama erzählte, einen meiner Finger abzuschneiden. Meinem Vater fehlte an der rechten Hand der kleine Finger und ich kaufte ihm die grausame Geschichte vom Zerstückeln gewisser Gliedmaßen sehr wohl ab.
Die Geschichte um seine Behinderung war keine geringere, als die, dass Opa für den Verlust des Stückchen Fleisch verantwortlich sein sollte. Papas Vater hatte den Finger seines Sohnes auf dem Gewissen, weil der als Kind ein unerzogener Bengel gewesen sein soll, dem man Zucht und Ordnung beibringen musste- notfalls mit Gewalt.
Mich ängstigte die Erzählung, aber ich schenkte ihr Glauben.
Anscheinend hatte Papa meiner Mutter dieselbe Geschichte aufgetischt. Als ich Mama fragte, was mit Papas Finger geschehen sei, gab sie dieselbe grausame Story mit einem traurigen Lächeln auf ihren Lippen zum Besten, wie Onkel Franz es getan hatte, Papas Bruder.
    Die Eltern meines Vaters waren seit Jahren verstorben und somit hatte auch meine Mutter ihren Schwiegervater nicht kennengelernt. Die Geschichte über den fehlenden Finger war alles, was an Opa erinnerte.
    Mit knurrendem Magen schlich ich wie ein gepeinigter Hund ins Bett. Vor Schmerzen heulte ich mich in den Schlaf.
Zwei Tage später wurde ich von Mama in die Schule gebracht und musste so tun, als ob nichts gewesen wäre. Nichts war passiert, während sie sich um eine Wohnung bemühte und mit Robert ins Bett stieg, um Papa zu betrügen, außer, dass alles seinen gewohnten Gang lief.
Das war die Antwort, die sie hören wollte und die ich ihr servierte.
    Während die anderen Kinder alleine mit dem Bus fuhren, setzten mich meine Eltern regelmäßig vor dem großen Tor der Schule ab. Mit trüben und verheulten Augen, saß ich wie ein Häufchen Elend auf dem Beifahrersitz im Wagen meiner Mutter, während diese mit Blick in den Innenspiegel ihren Lidschatten nachzog. Gedanklich schlich ich mich ans Ende der Welt und noch weiter fort. Dorthin, wo mich niemand finden würde.
    „Hast du irgendetwas?“, fragte Mama. Nervös löste sie den Verschluss des Anschnallgurts. Meinen Tränen befahl ich, sich genau in diesem Augenblick zurückzuhalten, in dem ich ihnen eigentlich freien Lauf hätte gewähren müssen.
    „Die Wohnung ist bald fertig. Es dauert nicht mehr lange, dann ziehen wir um.“
    „Aber meine Freunde!“, jammerte ich.
    „Du wirst neue Freunde finden.“
    „Und Papa?“
    „Papa kannst du immer sehen. Wann du möchtest und wo du möchtest, Samira. Du musst nicht traurig sein, nur, weil Papa und Mama auseinandergehen. Wir haben dich beide lieb und für unser aller Seelenfrieden ist es besser!“ Mama lächelte.
    Zwischen uns lag eine bedrohliche Kälte, unter der ich fror und auch als kleines Kind schon fröstelte.
Bei meinem Vater fühlte sich das in der Vergangenheit anders an, da hatte es Wärme zur Genüge gegeben, aber jetzt erlebte ich diese Gefühlskälte auch an ihm.
Besonders dann, wenn er mich gegen meinen Willen anfasste. Allein bei dem Gedanken an seine Missetaten, stellten sich meine Nackenhaare auf. Die feinen Härchen an meinen Armen richteten sich senkrecht gegen die Schwerkraft. Das Frösteln unter der Herzlosigkeit meiner Eltern war kaum noch zu ertragen.
Plötzlich fühlte ich mich nirgendwo mehr zu Hause. Allein, auf einer Eisscholle sitzend, trieb ich ins emotionale Verderben.


 

5 Jahre später

Mein Entschluss, bei Papa zu bleiben, war der falsche, las ich in meinem Tagebuch. In den letzten Jahren hatte ich fast jeden Tagesablauf in dem kleinen Buch festgehalten, das mir Papas Freund geschenkt hatte.
Dieses Buch wurde so etwas wie meine Verbündete.
Eine imaginäre Freundin, der ich von meinen Sorgen, sowie dem alltäglichen Kummer und Problemen mit meinen Eltern erzählte. Richtig regelmäßig schrieb ich ab dem zwölften Lebensjahr.
    Mit Händen und Füßen hatte ich mich gesträubt, mit meiner Mutter in die Stadt zu ziehen. Hatte mich gegen das Leben mit ihr entschieden, weil Papa mich mit unseren Geheimnissen seiner elenden Missbrauchsgeschichten, im wahrsten Sinne des Wortes, erpresste.
Welch schwere Last hatte er mir auferlegt, mich gegen meine Mutter zu stellen, um sein Lügenkonstrukt weiterhin stabil zu halten und nicht einstürzen zu lassen. Nur weil ich immer wieder aus freien Stücken betonte, unbedingt bei ihm bleiben zu wollen, gab Mama schließlich auf, mich gegen meinen Willen bei sich zu halten.
    „Dann habe ich in der Aufgabe als Mutter wahrscheinlich komplett versagt, wenn du nicht mit mir mitkommen möchtest, Samira. Was ist es, das Papa besser macht, als ich es getan habe? War er großzügiger als ich? Hat er dich mit Spielzeug überhäuft und deine Sehnsüchte nach Zuneigung mit Liebe gestillt, während du meine nicht haben wolltest? Hat er dir mehr Nähe zukommen lassen und Zeit geschenkt, als ich es tat? Was war es, Samira, dass du dich für ihn und gegen mich entschieden hast? Ich bin deine Mutter und jedes Kind geht im Falle der elterlichen Trennung mit der Mutter mit.“
Jetzt hätte ich ihr die Frage beantworten können, vor fünf Jahren war es mir unmöglich gewesen.
Damals schwieg ich aus Angst und Naivität. Schlug mich auf die Seite meines Vaters, weil ich Sorge hatte, seine Androhungen, Mama stirbt, könnten wahrwerden. Er bediente sich der gemeinen Lüge, Mama würde sich meinetwegen etwas antun. Sich womöglich von der Autobahnbrücke stürzen, ihre Pulsadern aufschneiden oder mit dem Revolver aus der Schublade im Schrank neben dem Bett eine Kugel in ihren Kopf jagen, wenn sie von unserem Geheimnis erfuhr.
Papa erzählte mir, Mama sei glücklich, wenn ich bei ihm bliebe, auch wenn sie mir dies nicht zeige und zugeben wolle. Er sei der bessere Part. Er habe mehr Geld, mehr Zeit, mehr Möglichkeiten. Mit zehn Jahren habe ich seinem Wort geglaubt, mit vierzehn habe ich die Dinge anders gesehen.
    Würde man mich heute noch einmal fragen, warum ich mich für das Leben bei meinem Vater entschieden habe, so lautete meine Antwort: „Weil ich nicht wollte, dass du meinetwegen unglücklich wirst, Mama.“

Ich fühle mich schuldig. Meine Mutter weint, weil ich sie allein gelassen habe. Sie denkt, ich habe sie nicht lieb, weil ich bei Papa geblieben bin. Ich weiß nicht, wie ich das wieder gut machen soll. Gestern habe ich sie besucht. Es war unser Wochenende. Ich habe Blumen gekauft. Wunderschöne Rosen. Ich will nicht, dass sie traurig ist. Gefreut hat sie sich nicht. Sie hat kurz ihre Nase reingesteckt, dran gerochen und übellaunig gesagt:

     „Danke. Wäre nicht nötig gewesen. Hat Papa dir gesagt, dass du das Unkraut für mich kaufen sollst?“

    „Nein, hatte er nicht, Mama!“
Das mit den Blumen war auf meinem Mist gewachsen.
Ihr gegenüber wollte ich mit dem Strauß Rosen in der Hand meine Zuneigung zum Ausdruck bringen.
Ich vermisste sie sehr aber mir fehlten die Worte, ihr meine Gedanken mitzuteilen. Der Spruch, lass doch mal Blumen sprechen, der als Reklame im Fenster des Floristen Ladens hing, passte wie die Faust aufs Auge.
Es war ein Hilferuf, doch meine Mutter erhörte ihn nicht.
Niemand achtete auf meine stummen Hilfeschreie.
Ich wusste nicht, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte, wenn wir uns länger nicht gesehen hatten. Sollte ich sie umarmen? Ihr einen Kuss geben? Wollte ich das überhaupt?
Jedes zweite Wochenende fuhr ich mit der Bahn in das 30 Kilometer entfernte Eckenhagen. Verbrachte den Samstag und Sonntag bei ihr in der kleinen Wohnung am Stadtpark. Die Stimmung zwischen uns war düster und beklemmend. Wir lachten selten und wussten nichts miteinander anzufangen. Wir wurden uns immer fremder, dabei sehnte ich mich so sehr nach ihrer Nähe. Wortlos saßen wir zusammen am Tisch in ihrer kleinen Küche, in der nichts an Luxus erinnerte und aßen Spaghetti mit Sauce. Mama hatte gekocht und das Essen schmeckte mir nicht, aber ich lächelte. Mir schmeckte es nicht- nicht, weil sie die Nudeln versalzen oder die Sauce überpfeffert hätte, mir schmeckte es nicht, weil mir die Situation schwer im Magen lag. Skeptisch beobachtete sie jede meiner Bewegungen. Achtete penibel darauf, ob ich die Gabel mit den zusammengedrehten Nudeln darauf, mit Lust zu meinem Mund führte oder ob es eher nach Widerwillen ausschaute.
    „Schmeckt es denn? Habe ich extra für dich gekocht!“, seufzte sie. Ihre Stimme klang traurig. Ein wenig verzweifelt sogar und ich fühlte mich immer schlechter. Ich nickte stumm. Am liebsten wäre ich zur Toilette gelaufen, hätte mir den Finger in den Mund gesteckt und alles wieder hochgewürgt.      
    „Wie klappt es mit Papa und dir?“
    „Gut!“, log ich.
    „Hat er sich geändert? Ich meine, aber ach, was frage ich dich. Als ob der sich ändern wird. Im Leben nicht und dann noch nicht.“
    „Wie meinst du das?“ Ich horchte auf.
    „Dein Vater ist ein Narzisst.“
    „Was ist ein Narzisst?“
    „Ein ganz schrecklicher Mensch. Die lassen nur ihre Meinung gelten und sie wollen alles und jeden unterdrücken. Bist du anderer Meinung wie sie, hast du die Arschkarte gezogen. Sie sind zufrieden, wenn sie Hass, Neid und Missgunst säen können. Sie erfreuen sich an deinem Leid. Ich denke, Sadismus spielt eine größere Rolle.“
    „Aha“, antwortete ich.
    „Hat er eine Freundin, dein Vater?“
Ich schüttelte den Kopf.
    „Du lässt dir aber auch alles aus der Nase ziehen!“
    „Ja, Mama.“
    „Was ja? Hat er eine Freundin?“
Ich schüttelte noch einmal den Kopf.
    „Interessant. Mal schauen, wie lange er das aushält. So ganz ohne Sex.“
    „Mama?“
    „Ja, mein Kind?“
Wann hatte sie mal mein Kind gesagt?
    „Ach, schon gut.“
    „Komm, raus damit.“
    „Nein, alles ist gut.“
    „Du wirkst bedrückt. Ist irgendetwas? Du weißt, du kannst immer mit mir reden.“
    „Ja.“
    „Willst du es mir sagen? Möchtest du mir erzählen, was dich bedrückt?“
Abermals schüttelte ich mit dem Kopf. Nein, ich wollte ihr nicht erzählen, dass ich mich jeden Abend vor dem zu Bett gehen vor Papa ausziehen und mich von ihm überall dort, wo ich es nicht mochte, anfassen lassen musste. Dass ich ihm beim Kacken und Urinieren auf der Toilette zusah, weil er es so wollte und ich beschämt wegzuschauen versuchte. Dass es mich anekelte, was er verlangte und dass ich nachts in meinem Bett bittere Tränen weinte und mich weit weg, an einen anderen Ort wünschte. Dass ich mich nicht mehr unsittlich anfassen und streicheln lassen wollte, den Mut jedoch nicht fand, mich gegen ihn aufzulehnen. Dass ich mich danach sehnte, doch noch zu meiner Mutter zu ziehen, ich mich aber nicht traute, ihr und Papa von meinen geheimen Wünschen zu erzählen. Vermutlich wäre es zu einer Katastrophe gekommen und ich hätte meine Eltern beide sehr unglücklich gemacht, wenn ich von der Wahrheit erzählt hätte. Von der Wahrheit, das Papa mich benutzte, misshandelte und emotional ausbeutete. Bevor Papa mich zum Bahnhof gebracht hatte, damit ich in den Zug Richtung Eckenhagen einstieg, hatte er verlangt, ich solle mich schnell noch ausziehen und auf mein Bett legen, es würde nicht lange dauern. Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem ich Mama besuchen wollte, mich wahnsinnig auf sie freute und Papa sich vorher an mir verging. Wie schlecht ich mich anschließend fühlte und dass mir das Lachen längst vergangen war.
    Seit zwei Jahren, kurz nach meinem zehnten Geburtstag, schlief mein Vater regelmäßig mit mir.
Die unsittlichen Streicheleinheiten gingen irgendwann wie selbstverständlich in sexuelle Handlungen über, ohne dass er ein Wort über das verlor, was er mir und meiner unschuldigen Seele antat.
In seinem Gesicht standen Erregung, Lust und Trieb geschrieben, während meins immer blasser werdend, von Trauer, Angst und posttraumatischer Belastungsstörung erzählte.
In meinem Tagebuch hatte ich den Eintrag der ersten Vergewaltigung durch die widerlichen Handlungen meines Vaters festgehalten. So gut es ging, in eigenen Worten das Unverständliche verfasst, wie ein zehnjähriges Kind der Worte und Zeilen einer zutiefst grausamen Tat, mächtig ist, obwohl es zum Zeitpunkt des Eintrags bereits schwer traumatisiert war.
Mit den Worten und Augen eines Erwachsenen lauteten die Zeilen in etwa:

     „Papa hat heute ganz doll Aua gemacht bei mir. Ich musste mich ausziehen, auf das Bett legen und er streichelte mich überall.
Erst meine Schenkel, dann den Bauch und meine Haut leckte er mit der Zunge ab. Es hat nicht gekitzelt, es war einfach nur scheußlich. Vom Popo bis zum Hals.
Anschließend zog er sich nackt aus und forderte mich auf, seinen Penis anzufassen.
Ich wollte das nicht, aber er nahm meine Hand und führte sie zwischen seine Schenkel.
    Mit Schrecken fühlte ich dieses harte, unangenehme Ding zwischen meinen feuchten Fingern, an denen labbriger Schnodder klebte. Das Zeugs, vor dem ich mich ekele. Ich wollte das nicht machen, niemals wollte ich freiwillig den Penis anfassen, aber Papa schrie mich an, ich blöde Kuh solle mich gefälligst nicht noch dämlicher anstellen als ich ohnehin schon sei.
    Alles sei natürlich, toll und wunderbar, was er verlangte, wobei alles nur glitschig, nass, schleimig und ekelhaft war. Und dann, als ich mir den Schubs gab, weil ich keinen Ärger riskieren wollte, legte er sich auf mich. Fürchterlich laut atmete er.
Ich wurde gezwungen seinen Penis in den Mund zu nehmen, aber der wollte dort so gar nicht hineinpassen.
Papa drückte besonders fest und hielt solange dagegen, bis er schließlich tief in meinem Rachen verschwand und ich würgen musste.  Anschließend sollte ich aufstehen. Papa packte mich grob und wuchtete mein Gesäß auf den Schreibtisch. Mit Gewalt versuchte er, in meinen Unterleib einzudringen. Das tat übel weh und mir schossen die Tränen in die Augen. Weil ich so arg zappelte, schlug er mir ins Gesicht. Ich möchte das nie wieder, dass er mir wehtut. Weder, dass er mich schlägt noch, dass er versucht, sein Ding zwischen meine Beine zu stecken. Dann hat er gesagt, dass er ja noch gar nicht richtig drin gewesen wäre in mir und er überhaupt nicht wisse, warum ich mich jetzt so entsetzlich anstellen würde. Morgen würden wir weitermachen, aber ich solle mich nicht sorgen. Er lachte und murmelte, dass es schon klappen und nicht weh tun werde.
    Ich habe große Angst. Am liebsten möchte ich von zu Hause weglaufen.“

Mein Vater hatte immer wieder, meist ergebnislos, versucht, seinen Penis in meine für das männliche Glied noch viel zu enge Scheide einzuführen.
    Dazu setzte er mich auf den Schreibtisch, auf den Küchentisch oder er befahl mir, mich rücklings auf den Boden niederzulegen, damit er sich auf mich setzen konnte. Je mehr Theater ich machte, aufmuckte und mich gegen seine Misshandlungen zur Wehr setzte, desto aggressiver agierte er. Doch weil ich mich verkrampfte, strampelte und nicht stillhielt, gelangte er nicht zum Ziel. Sein Penis passte nicht in meine Scheide und das ließ ihn rasend werden vor Wut.
Eines Abends kam er in mein Zimmer so wie er es immer tat. Laut, angetrunken und pöbelnd. Ich ahnte Schreckliches.
    „Wochenende! Morgen fährst du also wieder zu deiner hässlichen Mutter. Grüß sie schön von mir, die miese Verräterin. Betrügt mich mit einem anderen Kerl und lässt ihr eigenes Kind im Stich. Eine tolle Mama hast du da! Pfui Deifel.“
    Ich kannte die Wahrheit. Mama hatte mich nicht zurückgelassen, sondern ich hatte entschieden, hier zu bleiben. Die Gründe für meine Entscheidung kannte mein Vater zu genau, doch jetzt tat er so, als ginge ihn das nichts an. Ich fühlte mich verkauft und verraten.
    „Hier! Trink das. Dann tut es nicht mehr weh und du hältst endlich still. Er schnaufte merkwürdig. Auf dem Tablett, das er mit ins Zimmer gebracht hatte, stand ein Glas, bis zur Hälfte gefüllt mit Wasser.
    „Ich habe gar keinen Durst!“
    „Trink das leer. Mach schon! Keine Widerrede!“ Papa reichte mir das Glas. Mich zur Wehr zu setzen, wäre zwecklos gewesen. Während ich das undefinierbare Zeugs runterschluckte, das nach seifiger Zitronenlimonade schmeckte, zog er seine Hose aus. Vor meinen Augen masturbierte er.
    „Will ihn schon mal in Stimmung bringen.“ Er lachte. Über sich selbst? Über mich? Ich wusste es nicht.
     „Es tut so weh, Papa!“ Ich wollte nicht, dass das Spiel von vorn begann. Wenn ich ihm von den unerträglichen Schmerzen erzählte, wenn er Liebe mit mir machte, wie er es nannte, würde er mich vielleicht verschonen.
    „Heute tut es nicht weh. Trink das Glas leer und du fällst in den Dornröschenschlaf.“
Mein Blick fiel auf seine Hände. Mein Vater hatte feingliedrige, schmale Finger. An einem von ihnen steckte der Ehering. Den hatte er noch nicht abgelegt. Mama sehr wohl, das fiel mir bei einem der letzten Besuche gleich ins Auge.
Nachdenklich schaute ich auf das Glas.
    „Was ist da drin?“
    „Ein Schlaftrunk.“
    „Und wenn ich gar nicht schlafen will, Papa?“
    „Ich will aber, dass du schläfst.“ Mein Vater setzte sich zu mir auf die Bettkante. Mit nervösen Händen spielte er an seinen Genitalien.
    „Du sagst aber der Mama nichts, oder?“
Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich würde nichts sagen. Ich wollte nicht, dass sie sich meinetwegen quälte oder schlecht fühlte.
    „Lange können wir das Spiel ohnehin nicht mehr spielen. Irgendwann wirst du den Mund aufmachen, du wirst älter. Da bin ich sicher.“ Papa klang nachdenklich.
    „Stirbt Mama dann?“
    „Das wollen wir nicht hoffen. Hängt alles von dir ab, Prinzessin.“
    „Ich will nicht, dass Mama stirbt!“
    „Ich auch nicht!“ Papa wischte eine Träne aus seinem Gesicht.
    „Es tut mir leid“, sagte er plötzlich. Und nein, ich fragte nicht, was ihm leidtat. Ich ahnte, er wollte so etwas wie eine Beichte ablegen, weil es auch ihn innerlich quälte, dass er mit seinen Dämonen nicht mehr fertig wurde.   
    „Hast du mich lieb, Samira?“
    „Ja, Papa.“
    „Du sollst nicht lügen.“
Ich schüttelte den Kopf.
    „Ich lüge nicht!“
    „Menschen, die anderen Menschen weh tun, kann und darf man nicht lieben“, sagte er unter Tränen.
    „Warum tun Menschen sich gegenseitig weh, Papa?“
Mein Vater atmete tief durch.
    „Weil sie geliebt werden wollen. Alles der Liebe wegen.“
    „Tut Liebe immer weh, Papa?“
    „Oh ja! Liebe schmerzt permanent und weißt du was, die echte, wahre Liebe, die gibt es gar nicht. Die gibt es nur im Märchen. In deinen Büchern, aus denen du dir so gern vorlesen lässt.“
    „Dann will ich gar nicht erst erwachsen werden. Dann tut es ja noch viel mehr weh, wenn ich groß bin.“
Mein Vater konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Wie ein kleiner Junge saß er mit zusammengekniffenen, nackten Oberschenkeln auf meinem Bett und weinte aus Verzweiflung, wirklich bitterlich.
Ich wollte ihn umarmen.
Mich an ihn schmiegen und einen Kuss auf die Wange drücken. So, wie ich es früher getan hatte, als noch nichts dabei war, wenn wir uns liebten. Ich wünschte mir die Zeiten zurück, in denen ich mich nicht schlecht fühlte, Zärtlichkeiten auszutauschen, während ich mich heute vor seinen Zärtlichkeiten und seinem Körper ekelte.
Irgendetwas hielt mich zurück, ihn zu umarmen.
Plötzlich fühlte ich mich benommen. Richtig schwindelig.
So, wie kurz vor dem Einschlafen, wenn man das Gefühl hat, man fiele in ein tiefes Loch oder man stürzte von der Bordsteinkante. Dann wurde es dunkel in meiner Erinnerung.
    Der nächste Morgen weckte mich schmerzvoll.
Ein fahler Lichtstrahl fiel durch die halbgeöffnete Jalousie. Zwischen meinen Oberschenkeln fühlte es sich an, als wäre ich einen Tag lang mit dem Medizinball aus dem Sportunterricht durch mein Zimmer gehüpft. Meine Scheide brannte wie Feuer. Intuitiv ahnte ich, was geschehen war. Papa hatte sein Versprechen, mir zeigen zu wollen, was es bedeutet, richtige Liebe zu machen, eingehalten. Er hatte mir etwas Schlimmes, wirklich Böses angetan und bestimmt würde er sich heute an nichts erinnern. Ebenso wenig wie ich. Meine Erinnerung an die vergangene Nacht war wie weggeblasen. Dafür dröhnte mein Kopf, als wäre ein Zug hindurchgefahren und alles in mir schrie um: „Hilfe.“
Auf allen Vieren krabbelte ich weinend und benommen durch mein Kinderzimmer. Zog frische Unterwäsche aus dem Kleiderschrank.
Ich war in der Hölle gelandet und es gab keinen Ausweg. Ich wusste nicht einmal, ob es seine Richtigkeit hatte, dass Papa mit mir machte, was er wollte, ohne dass ihn jemand daran hinderte und ob er mich überhaupt so schäbig behandeln und benutzen durfte, wie er es tat.
Auf dem Bettlaken fanden sich Blutspritzer.
    Ich erschrack.
Waren die etwa von mir?
Der erste Griff führte reflexartig zwischen meine Schenkel, weil es zwischen ihnen schmerzte.
Im Schritt war ich feucht und ja, es fanden sich krustige Blutreste an meiner Hand, mit der ich vorsichtig entlang meiner Scheide strich. Nachdem ich sie ängstlich zurückzog, sah ich das Malheur.
    Entsetzt wich ich vor mir selbst zurück. Ich geriet in Panik.
Was war geschehen?
Plötzlich hatte ich Angst, sterben zu müssen.
Blut war nie gut und schon gar nicht an der geheimnisvollen Stelle, an der Papa mich so gern berührte, obwohl er das nicht durfte.
Er sagte ja selbst:
    „Die verbotene Zone, verdammt, aber ich berühre sie so gern.“
Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, dass mein Slip von gestern, zusammengerollt, unter dem Bett lag.
Der rosafarbene Schlüppi mit den weißen Pferdchen darauf. Die Unterwäsche, die Mama mir gekauft hatte, weil ich sie so schön fand, als wir zusammen durch die Einkaufspassagen schlenderten und in dem Modegeschäft stoppten.
Vorsichtig bückte ich mich und zog ihn zwischen den Wollmäusen hervor.
Der Stoff war rotbesprenkelt.
Traurig streichelte ich mit meinen Fingern über die blutigen Hinterlassenschaften einer grausamen Tat, von der ich nicht wusste, welch rechtlichen Konsequenzen sie für meinen Vater gehabt hätte, wenn das Grauen in meinem Kinderzimmer jemand entdeckte.
    „Samira? Aufstehen! Dein Zug geht gleich!“, dröhnte Papas raue Stimme hinter der Tür.
    „Ja!“, wimmerte ich. Den Schlüpfer schleuderte ich zurück unter das Bett.
Hastig und in Eile, zog ich mich an. Mir fiel es schwer, mich normal zu benehmen, die Schmerzen zogen sich durch jede Faser meines Körpers. Von der Leiste bis unter die Arme. Ich fühlte mich, als wäre ein Zug über mich hinweggerollt.
Ich wollte nicht, dass Papa mich nackt sah. Ich schämte mich. Die Sachen für das Wochenende, das ich bei meiner Mutter verbringen sollte, hatte ich bereits in meinen Rucksack gepackt.
Meine Eltern hatten beschlossen mich an den Wochenenden mit dem Zug hin und her fahren zu lassen, um die Abläufe der öffentlichen Verkehrsmittel besser kennenzulernen. Nach den Ferien würde ich die Schule wechseln und müsste allein mit dem Bus oder der Bahn zum weiterführenden Unterricht fahren. Heute wollte ich unter Papas akribischen Augen in den Zug zwar ein- aber nicht wieder aussteigen. Heute würde ich bis ans Ende der Welt fahren und nie wieder hier her zurückkommen. Ich wollte mir nicht mehr weh tun lassen.   
    „Na, gut geschlafen, Prinzessin?“ Papa stolperte ins Zimmer. Ein unangenehmer Nebel des Restalkohols verteilte sich aufdringlich penetrant im Raum.
    „Was ist jetzt schon wieder? Du guckst wie ein begossener Pudel. Was ist los mit dir, Mädchen?“
Ich antwortete ihm nicht.
Wusste er von meinen Schmerzen?
Von dem blutgetränkten Slip?
Gehorsam stand ich wie angewurzelt auf der Stelle, wagte es nicht mich zu rühren. Mit aus Angst zusammengekniffenen Lippen wartete ich auf Anordnungen meines Peinigers.
In meinem Willen war ich längst gebrochen worden.
    „Hey, ich rede mit dir, Schnucki. Was geht ab?“
    „Nichts“, wisperte ich.
    „Das will ich doch aber wohl meinen, dass hier nichts abgeht.“ Meines Vaters zornigen Augen blickten sich nervös im Zimmer um. Wahrscheinlich suchten sie die Hinterlassenschaften der nächtlichen Schweinerei. Natürlich würde er sich wie immer, an nichts erinnern und rausreden.
    „Zieh die Hose aus!“, pfiff er mich an.
Meine Kehle war wie zugeschnürt. Was wollte er jetzt? Ausziehen sollte ich mich? Warum? Entsetzt kniff ich die Schenkel zusammen.
    „Los, ausziehen!“ Energisch fasste er mich bei den Hüften und riss mir die Jeans vom Leib. Als er die frische Unterwäsche sah, seufzte er: „Na, das war aber auch dein Glück! Los, anziehen und dann ab mit dir, zum Bahnhof.“
Den Mut, nach dem bei Mama verbachten Wochenende mit dem Zug bis ans Ende der Welt zu fahren, um der Hölle zu entkommen, hatte ich schneller verloren als gedacht. Was sollte ich allein irgendwo im Nirgendwo? Ich hatte Angst vor der Welt dort draußen. Ich kannte mich ja nicht einmal mehr zu Hause aus, wie sollte ich es alleine, draußen, auf weiter Flur, schaffen?
    Schweren Herzens stieg ich also am Sonntag auf demselben Bahngleis mit der Nummer zwei aus, auf dem ich freitags eingestiegen war. Mit verheulten Augen, schauspielerisch jedoch fast perfekt gelungen, glücklich auszusehen, stolperte ich in die offenen Arme meines Vaters. Wissentlich lief ich in mein Verderben.
Das tat weh und sein Verhalten richtete meine Kinderseele systematisch zugrunde.
    „Ich habe eine Überraschung für dich!“ Papa strahlte über das ganze Gesicht, während er mich fest an sich drückte. Er wirkte anders als sonst. Befreiter, zufriedener und fast happy irgendwie. Ich traute mich nicht, ihn zu fragen, was während meiner Abwesenheit geschehen war, aber es musste etwas Schönes vorgefallen sein, während ich die zwei Tage bei Mama verbracht hatte.
    „Ich habe jemanden kennengelernt.“ Papa spannte seine breite Brust. Mit strahlenden Augen demonstrierte er die Victorypose.
    „Zum Liebe machen?“, fragte ich mit großen Augen.
    „Ja! Zum Liebe machen. Sie heißt Elvira und ist fürchterlich nett. Hübsch ist sie außerdem. Sie möchte dich unbedingt kennenlernen.“
    „Das ist toll“, sagte ich. Ich war mir nicht sicher, ob ich Elvira kennenlernen wollte, aber ich lächelte wohlerzogen.
    „Und der Mama? Wie geht’s der? Du hast ihr nicht etwa von unserem Geheimnis erzählt? Oder hast du doch?“ Papa schaute mich mit dem berüchtigten, großen Fragezeichen im Gesicht an.
Ich schüttelte den Kopf. Nein, niemals hätte ich es gewagt, Mama von dem, was mir widerfahren war, zu erzählen.  Von dem Blut an meinem Schlüpfer und den Schmerzen zwischen den Schenkeln, brauchte sie nichts zu wissen.
    „Bist ein braves Mädchen!“ Papa streichelte über mein Haar. Das tat er recht lieblos, aber seine Augen, die schimmerten lustvoll.


 

Elvira

    „Und du musst Samira sein!“
Eine junge Frau, deutlich jünger als mein Vater, streckte mir zur Begrüßung die ringbefingerte Hand entgegen.
Sie trug eine flippige Kurzhaarfrisur, ein durchlöchertes Batikshirt, ein knappes Röckchen und über ihren Unterarmen erstreckten sich zahlreiche Tätowierungen. Nachdem ich von der Schule nachhause kam, saß diese Frau wie bestellt und nicht abgeholt in unserer Küche.
Die Beine übereinandergeschlagen, lächelte sie mich an. Eine Flasche Sekt stand auf dem Tisch.
Aus dem teuren Kristallglas, das meine Mutter so gern mochte, beim Auszug jedoch vergessen zu haben schien, nahm sie einen Schluck. Sie genierte sich nicht, sich in fremder Umgebung wie zu Hause zu fühlen.
    „Möchtest du auch?“ Aufmunternd prostete sie mir zu.
Das meinte sie jetzt nicht im Ernst oder?
Generell trank ich keinen Alkohol.
    „Ja!“, stammelte ich. „Äh nein! Danke, ich möchte nicht!“ Mein Ja galt der Frage wer ich sei, als Antwort auf die Frage nach dem Alkohol folgte ganz sicherlich ein klares Nein von mir. Alles in mir schüttelte sich wenn ich an die Trunksucht meines Vaters dachte.
    „Ich bin Elvira. Die Freundin deines Vaters.“
    „Hallo!“, wisperte ich.
    „Hat er dir von mir erzählt?“
Ich nickte. Ja, das hatte er.
    „Von dir hat er mir nur Gutes erzählt und ich muss sagen, er hat mir nicht zu viel versprochen. Du bist ein wirklich hübsches Mädchen, Samira.“ Freudig lächelnd schwenkte sie das Glas in die Luft.
    „Dann stoße ich eben imaginär mit dir auf unsere Freundschaft an, wenn du nichts Trinken möchtest.“
Mein erster Eindruck von Elvira war jener eines ganz besonderen Augenblicks, den ich so schnell nicht wieder vergaß. Die Freundin meines Vaters hatte ich mir nämlich anders vorgestellt. Strenger irgendwie. Mit Hochsteckfrisur, wie das Fräulein Rottenmeier und noch schlimmer. Vor mir saß jemand ähnlich der Figur, wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Den Film hatten wir neulich in der Schule angesehen.
    „Kommst du vom Bahnhof?“, fragte ich.
    „Ja, so ähnlich.“ Elvira grinste.
    „Du siehst lustig aus“, sagte ich vorsichtig.
    „Du meinst meine Tattoos? Na, dein Vater mag sie auch nicht leiden, aber sie müssen auch nicht jedem gefallen und außerdem juckt es mich nicht. Wer mich nicht so mag wie ich bin, hat mich anders nicht verdient. Solange ich für meinen Job bezahlt werde, ist alles tutti.
    „Doch, sie sind schön, die Tattoos“, sagte ich verlegen.
    „Danke! Wir zwei gehen jetzt übrigens was Essen. Hat dein Vater mir aufgetragen. Er muss noch arbeiten und du bist sicher hungrig. Kochen kann ich nämlich nicht.“ Elvira zog entschuldigend die Schultern hoch und zeigte auf das blitzblank geputzte Ceranfeld.
    „Nicht schlimm, meine Mama kann auch nicht kochen“, sagte ich.
Elvira lachte und dann lachten wir beide. Das Eis war gebrochen.
    „Jetzt guck nicht so, steig schon ein!“ Die junge Frau schwang sich auf den Fahrersitz ihres Autos, für das ich weder den passenden Ausdruck noch die richtigen Worte fand. Jedenfalls war es höchst interessant, so viele bunte Farben auf einem Auto anzusehen. Es sah aus, als hätte man mehrere Eimer Farbe über das Dach der Karosserie gekippt.
    „Alles selbst lackiert und aufgesprayt! Gefällt dir das? Ist mal was anderes, bissl flotter als diese schäbigen Fabrikfarben von der Stange!“ Elvira klappte den Schminkspiegel runter und zog mit dem Lippenstift die Farbe an ihrem Kussmund nach. Mir gefiel das Auto gut, ob es allerdings meinem Vater gefallen würde, bezweifelte ich.
    „Hat Papa dein Auto schon gesehen?“ Mit Bedacht und in Obacht, bloß nichts kaputt zu machen, ließ ich mich in den Beifahrersitz gleiten und traute mich kaum, den Anschnallgurt anzulegen.
    „Oh ja. Und er findet es sogar richtig toll! Ich hätte ein richtiges Hippie Auto, sagt er. Kann man gar nicht glauben, was?“ Elvira legte den Lippenstift in die Konsole.
    „Anschnallen junges Fräulein. Wohin soll die Reise denn nun gehen? Mac Donalds oder doch lieber ins Kress Hotel?“
    „Oh nein, ich darf auf gar keinen Fall Fast Food essen“, sagte ich entrüstet. Mac Donalds fiele somit aus.
    „Wer sagt das?“ Elvira prustete wie ein empörtes Walross.
    „Papa! Aber meine Mutter mag das Essen auch nicht.“
    „Heute darfst du bei Mac Donalds essen, so viel du willst. Wenn ich sage, es ist okay, dann ist es in Ordnung, kannste mir glauben.“ Elvira lächelte. Eigentlich fremdelte ich bei mir unbekannten Menschen, in der Nähe der ausgeflippten Elvira, fühlte ich mich jedoch erstaunlich wohl.
    „Dein Auto ist cool, Elvira. Und deine Kleidung erst!“, flüsterte ich. Auf das Batikshirt war ich richtig neidisch. So eins hätte ich auch gern gehabt.
    „Danke!“ Elvira lenkte den Mini Cooper zielsicher auf den Parkplatz der allseits bekannten Fastfood Kette.
    „Weißt du schon, was du essen möchtest? Sollen wir reingehen oder lieber Mac Drive?“
    „Was ist Mac Drive?“
    „Wir holen das Essen mit dem Auto ab.“
Mama und Papa waren mit mir noch nie im Fastfood Restaurant. Wenn ich gelegentlich fragte, ob es möglich wäre, hinzugehen, bekam ich nur zu hören, wie ungesund der abscheuliche Fraß sei.
    „Lieber reingehen!“, sagte ich.
    „Gut, gehen wir rein. Ist dein Tag heute. Jeder deiner Wünsche ist mir Befehl!“
Das hatte noch nie jemand zu mir gesagt, dass irgendein Tag meiner sei und ich Wünsche äußern dürfte. Auch hatte mich noch nie jemand so freundlich gefragt, was ich essen mochte. Bei uns daheim wurde gegessen, was auf den Tisch kam und wehe, ich gab Widerworte.
Bei Pommes Frites, einem großen Burger und einer ungesunden Coca-Cola, saß ich mit der Freundin meines Vaters, die ein kleines, buntes, sehr sonderbares Auto fuhr und von oben bis unten tätowiert und sogar gepierct war, zum allerersten Mal in meinem Leben bei Mac Donalds. Den Augenblick genoss ich in vollen Zügen.   
    „Dir schmeckt es aber, was?“ Elvira lachte. Und sie staunte, als ich noch einen Cheeseburger nachbestellte. Die Menschen um uns herum waren freundlich. Die Männer lachten Elvira zu. Einer kam sogar an unseren Tisch.
    „Hey, was machst du hier, Hübsche? Und wen hast du uns denn da mitgebracht? Hast du etwa ein Kind bekommen oder ist es adoptiert? Die Kleine ist aber schnell gewachsen! Vor zwei Wochen warst du noch nicht mal schwanger.“
Der Typ mit den buschigen Augenbrauen und dem Oberlippenbart, der Elvira gut zu kennen schien, musterte mich neugierig.
    „Das ist Samira. Die Tochter eines Freiers.“ Elvira klärte die Situation.
    „Hast du etwa umgesattelt? Von der Prostitution zum Babysitten?“
    „Musst du vor dem Kind so abartig sprechen?“ Elvira rollte mit den Augen.
    „Ach, sie weiß nicht, wer du bist?“
Elvira schüttelte den Kopf. „Nein und ich denke, wir müssen sie nicht verunsichern, also lassen wir das.“
    „Was ist Prostitution?“ Verwirrt schaute ich zu Elvira, von ihr zu dem fremden Mann und wieder zurück.
    „Sie macht Liebe mit deinem Papa und wird dafür bezahlt.“ Der Typ grinste frech.
    „Was zahlt er dir denn eigentlich so, dein Sugar Daddy?“
    „N Tausender die Woche.“
    „Ha, andere nehmen die Kohle am Tag.“ Der Typ warf den Kopf in den Nacken.
    „Na und wenn schon? Is viel Geld. Mir reicht es zum Leben.“
    „Und das Babysitten ist extra?“
    „All inklusive.“
    „Du verkaufst dich unter Wert, Schätzchen.“   
    „Hau ab Simon. Du verunsicherst das Mädchen ja total“; zischte Elvira.
Auf der Fahrt nachhause erzählte sie mir aus ihrem Leben. Sie nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es um Macken und Gewohnheiten ging. Zudem schien sie die Ehrlichkeit mit Löffeln gefressen zu haben. Munter wie ein Wasserfall, plauderte sie drauf los. Gespannt und wirklich neugierig, lauschte ich ihren Erzählungen. Sie verstand es hervorragend, die Menschen in ihrer Umgebung zu unterhalten. Aufgewachsen neben fünf Geschwistern, hatte sie mit nur vierzehn Jahren das Elternhaus verlassen, um selbstbestimmt auf der Straße zu leben.
    „Den Zoff und Streit habe ich irgendwann nicht mehr ausgehalten. Außerdem, meine Mutter hat sich von meinem Vater regelmäßig schlagen lassen. Vor den Augen meiner Geschwister ließ sie sich verprügeln. Wenn unser Alter gesoffen hatte, dann verging er sich auch an meinen jüngeren Geschwistern. Er nahm den Gürtel und drosch ihre Hintern windelweich. Manchmal gab es Hiebe bis zur Bewusstlosigkeit. Mich hat er nicht angerührt. Bei mir wusste er, dass ich ihm Paroli biete, wenn er seine Hände nicht bei sich lässt. Aber es kam der Tag, an dem ich das Elend daheim nicht mehr sehen wollte. Weißt du, nach jedem Aufstehen in der Früh diesen Horror zu erleben, das verändert einen Menschen. Ich ging nur noch zwei Mal die Woche zur Schule. An den Tagen, an denen wir Sport und Kunstunterricht hatten, weil mir die Fächer Spaß machten. Deutsch, Mathe und Englisch habe ich gehasst wie die Pest. Da habe ich dann einfach blaugemacht und geschwänzt. Bin gelangweilt durch die Stadt geirrt und habe die falschen Leute kennengelernt. Der Weg zu den Drogen und der in die Prostitution, war ein Katzensprung.“
    „Du nimmst Drogen?“ Ich war entsetzt. Mama hatte mich schon recht früh gewarnt, mir in der Schule bloß nichts andrehen zu lassen.
    „Klar. Nimmt doch jeder.“
    „Ich nicht.“
    „Hast sicher den abschreckenden Film vom Bahnhof Zoo gesehen, was?“
    „Ja, genau!“
    „Der hat bei mir nicht gewirkt. Ich wollte immer so werden wie Detlef und Christiane. Fand das richtig cool, wie die im Film abhängen. Da gab es noch wahre Freundschaft. Heute sind deine Freunde doch nur noch Müll. Jeder für sich und Gott für uns alle.“
    „Sei froh, wenn du nicht so wirst wie sie!“, sagte ich.
    „Du bist ganz schön clever für dein Alter. Wie alt bist du jetzt, Samira?“
    „Ich werde dreizehn.“
    „Besser ist es natürlich, nicht so zu werden, wie Detlef und Christiane. Aber der totale Absturz ist bei einer Karriere wie ich sie hingelegt habe, meist vorprogrammiert. Schlechtes Elternhaus, die Eltern kümmern sich nicht um die Kinder, die Schulleitung kümmert sich auch nicht, interessiert sich nicht, wo du abbleibst. Wenn du jedem Menschen in deinem Leben egal bist, dann hast du das Gefühl, die Welt sei ein Karussell, aus dem du ausgestiegen bist.  Jedenfalls bin ich stolz wie Bolle, dass ich den Führerschein geschafft habe. Das Koksen habe ich auch erst danach angefangen. Ansonsten hätte ich den Lappen gar nicht erst bekommen.“
    „Wenn Papa weiß, dass du Drogen nimmst, wird er sicherlich nichts mehr mit dir zu tun haben wollen“, mutmaßte ich.
    „Das glaube ich nicht. Dein Vater ist nun nicht gerade der Vorzeigesunnyboy, der jede Frau rumkriegt. Überarbeitet, gereizt, nach Schweiß stinkend und Alkohol trinkend, fällt der eher in die Kategorie, alleine bis an den Rest seiner Tage zu bleiben. Aber, mit Geld kann er sich alles kaufen. Autos, Häuser und eben auch die Liebe.“
    „Aber ist sie dann echt?“
    „Du meinst meine Liebe?“
    „Ja!“, fragte ich erwartungsvoll.
    „Nein. Natürlich nicht. Gar nichts ist echt. Weder der Kuss, noch, wenn ich meine Beine breitmache und einen Orgasmus vortäusche. Alles geschauspielert und dafür werde ich ordentlich bezahlt. Geil oder?“
    „Warum macht Papa sowas?“ Zunächst verstand ich die Welt nicht mehr.
    „Weil er einsam ist!“ Es klang eher nach einer Frage als nach einer Antwort.
    „Ich bin ein Escort Mädchen. Habe mich hochgearbeitet. Weg vom Straßenstrich ins normale Leben. Dein Papa arrangiert mich für einen gewissen Zeitraum und dabei geht es nicht nur um Sex. Wäre ich seine Nutte, würden wir uns nur treffen, wenn ihm die Geilheit aus den Augen springt. So aber bin ich jetzt mit dir nach Mac Donalds gefahren und wenn du Lust hast, können wir noch shoppen gehen oder sonst was unternehmen. Etwas Zeit ist noch übrig vom Geld.“ Elvira grinste. Sie stoppte den Wagen vor einem großen Parkhaus und sah mich fragend an. 
    „Wollen wir? Bissl Geld ausgeben? Eine neue Hose kaufen oder vielleicht einen Pullover für dich? Oder doch lieber die hübschen, aufreizenden Dessous? Hast du einen Freund?“ Energisch schüttelte ich den Kopf. Elvira kniff mir ein Auge. Ja, ich wollte shoppen gehen. Ich wollte Dinge machen, die ich zuvor nie getan hatte und etwas erleben, von dem ich vielleicht mit leuchtenden Augen in der Schule erzählen könnte. Meine Mitschüler würden staunen, wenn ich ihnen erzählte, dass ich mit der durchgeknallten neuen Freundin meines Vaters, die tätowiert und gepierct war, dazu für ihr Leben gern kiffte, Dessous im teuersten Laden der Stadt kaufte und wir anschließend mit ihrem lustigen Auto bei Mac Donalds hielten, obwohl meine Eltern es strengstens verboten hatten, dort zu essen. Mein Leben schien plötzlich eine sonderbare Wendung zu nehmen und mir gefiel die Achterbahnfahrt. Ich hoffte, Elvira würde mir noch lange erhalten bleiben. Mit ihrer süßen Art, Späße zu machen, mich zu unterhalten und zum Lachen zu bringen, hatte sie in nullkommanichts mein Herz erobert.
    In meinem Tagebuch huldigte ich ihr seitenweise Einträge. Ich erwischte mich dabei, wie ich nachts in meinem Bett lag und zu Gott betete, dass er dafür sorgte, dass Papa es sich mit der Frau, die mir zeigte, wie schön das Leben als Kind sein konnte, nicht verdarb. Ich erinnerte mich an die Streitigkeiten mit Mama. Elvira würde sich das von meinem Vater nicht gefallen lassen. Sie würde ihre Koffer packen und gehen. Woanders ihr Geld verdienen und nie wieder hier her zurückkommen.
    Niemals hatte ich eine Freundin wie sie kennengelernt. Niemals war mir meine Mutter eine Mama gewesen wie Elvira. Ich redete mir ein, sie tat es nicht nur des Geldes wegen, sondern weil sie mich wirklich mochte. Ebenso wie ich sie aus meinem Leben nicht mehr wegdenken wollte, gab sie mir das Gefühl, dass auch ich ihr sehr nahe stand.
    „Ich wollte nie eigene Kinder haben. Aber wenn ich ein Mädchen hätte, das so wäre wie du, Samira, dann wünschte ich, ich hätte drei an der Zahl!“, sagte sie eines Tages. Sie schmeichelte mir und es tat ungemein gut, diese Wärme zu spüren, die sie ausstrahlte. Wann hatte ich in den vergangenen Jahren Liebkosungen und nette Worte erhalten? Ich konnte mich nicht erinnern.
    „Samira, was ist passiert? Du blühst ja richtig auf!“ Sogar der Lehrerin war meine Veränderung nicht entgangen. Ich beteiligte mich am Unterricht und meine Noten verbesserten sich. Elvira setzte sich des Nachmittags mit mir zusammen und wir lernten für die Schule. Spielerisch brachte sie mir die wichtigsten Begriffe im Englischen bei und in Rechtschreibung war sie gar nicht so schlecht wie sie von sich sagte.
    „Immerhin gibt es den Duden!“, sagte sie lachend. In Papas Bibliothek fand sich alles was wir brauchten, um die Hausaufgaben zu erledigen und aus mir eine Streberin zu machen. Mit Interesse las ich in einigen Büchern über die Welt der Tiere, über die Vielfalt der Blumen und über moderne Technik und Wissenschaften. Zudem schulte Elvira meine Rechtschreibkenntnisse. Die Ergebnisse konnten sich durchaus sehen lassen. 
    „Sieh mal, ich habe in Deutsch eine zwei geschrieben.“ Mit Stolz hielt ich meinem Vater das Schulheft unter die Nase. Wir sollten einen Aufsatz schreiben über ein besonders freudiges Ereignis, in dem Freundschaft eine große Rolle spielte. Angeregt von den Erlebnissen mit Elvira, erzählte ich in ausschweifenden Farben und bewegenden Bildern von unseren gemeinsamen Unternehmungen. Mittlerweile hatten wir zusammen den Zoo, den Freizeitpark, das Schwimmbad und das Kino besucht. Alles Dinge, die für mich Neuland waren, mich jedoch in eine Art Freudentaumel versetzten, weil sie mein Herz lachen ließen. Bei Popcorn, Nachos und Coca-Cola, auf der riesigen Leinwand lustige und spannende Kinderfilme anzugucken, entsprach Lebensfreude pur.
    „Na und?“, sagte mein Vater herzlos. Er warf nicht mal einen Blick in das Schulheft.
    „Freust du dich denn gar nicht?“, fragte ich enttäuscht.
    „Ich denke, es ist höchste Eisenbahn, dass du kapierst, dass du nicht für deine Eltern lernst, sondern für dich selbst und für dein späteres Leben.“
Seine Abweisung tat mir im Herzen weh.
    „Ich dachte, du freust dich, dass ich in der Schule jetzt nicht mehr die Verliererin bin, sondern zu den Gewinnern gehöre“, sagte ich aufrichtig.
    „Jeder entscheidet für sich selbst, ob er aus seinem Leben etwas machen möchte oder nicht.“
Als ich Elvira von der Kälte meines Vaters erzählte, nahm sie mich in ihre Arme. Mütterlich drückte sie mich an ihre Brust. Bei ihr fühlte ich mich geborgen.
    „Das ist nicht fair“, sagte sie. „Aber, nimm es dir nicht so sehr zu Herzen. Er ist überarbeitet und gestresst. Kommt mit sich selbst nicht klar. Ich denke, er meint das nicht so, wie er es sagt.“
    „Doch, er meint das so“, sagte ich traurig.
Heimlich beobachtete ich Elvira und meinen Vater, wenn sie sich der Liebe hingaben. Die Tür zum Schlafzimmer ließ Papa meist halb geöffnet stehen oder sie war nur sachte angelehnt. Leise schlich ich mich heran. Legte mich flach auf den Boden oder kauerte mit dem Rücken zur Wand um den genussvollen Geräuschen der Liebe zu lauschen. Manchmal robbte ich ganz nah zur Tür, nur um etwas zu sehen. Dass Mama und Papa mal zusammen Sex gehabt hätten, daran konnte ich mich nicht erinnern. Und wenn dem so gewesen wäre, hätte meine Mutter sicherlich die Tür abgeschlossen, damit ich nichts zu sehen bekam. Sex war ein leidiges Thema in unserer Familie. Meine Mutter hatte so gut wie nie über die Liebe gesprochen und mein Vater erst recht nicht. Somit wusste ich nicht, was Liebe bedeutete. Durfte ich den Begriff der Liebe mit Freundschaft gleichsetzen?
    Während ich Elvira und meinen Vater beobachtete, ihnen aus dem Augenwinkel heraus zusah, wie sich der schwere, nackte Körper meines Vaters über den der grazilen der Elvira wälzte, seine Lippen ihre Brüste küssten und seine Hände überall an ihr streichelten und liebkosten, verstand ich immer mehr, was Sex bedeutete und dass man Liebe strikt davon trennen musste. Das laute Aufstöhnen, leise Juchen und Seufzen, die Gebärden, der Geruch der in der Luft lag, all das erzählte von Gelüsten, für die ich mit dreizehn Jahren sehr wohl ein Gespür entwickelte, auch wenn mich bis dato niemand aufgeklärt hatte. Außerdem verstand ich, dass Papa auch mit mir Sex gemacht hatte. Lange bevor Elvira auf der Bildfläche aufgetaucht war. Ganz tief saugte ich diese Bilder in mir auf und ich spürte, ich entwickelte eine Abneigung gegen Sex. Mir wollte sich nicht erschließen, was daran toll sein sollte, außer, dass man den nächsten Tag große Schmerzen verspürte und seinen Schlüpfer blutgetränkt unter dem Bett wiederfand. Freiwillig würde ich mich dieser Tortur niemals unterziehen wollen. In dem Augenblick des Höhepunkts, von dem ich nur mutmaßen konnte, dass Papa und Elvira ihn erreicht hatten, zog sich alles in mir zusammen. Es schnürte mir die Luft ab und ekelte mich an. Aber ich glaubte, Elviras Loch zwischen den Beinen sei größer als meines weil sie erwachsen war. Somit täte es ihr nicht weh, wenn mein Vater mit seinem Penis in sie einzudringen versuchte. Glücklich sah sie allerdings nicht aus, als Papa sich neben sie rollte und seufzend sagte: „Du bist gut, weißt du das? Du bist richtig gut und jeden Cent wert.“
    Am nächsten Morgen saß Elvira lässig mit der Zigarette in ihrem Mundwinkel und dem dampfenden Pott Kaffee vor ihrer Nase am Küchentisch. Die Beine übereinandergeschlagen, trug sie den Bademantel meiner Mutter. Mein Vater musste schon unterwegs zur Firma sein, ich hatte den Wagen gleich in der Früh beim Ausparken gehört. Die Geräusche rund ums Haus kannte ich zu genau.   
    „Du trägst Mamas Mantel“, sagte ich.
    „Das heißt Guten Morgen, Fräulein!“, sagte Elvira streng.
    „Guten Morgen!“
    „Warum hat deine Mutter ihn hier gelassen, den Bademantel?“, fragte sie. „Der ist ja nicht mal hübsch. Aber ich wollte mich nicht nackt an den Tisch setzen.“
    „Ich weiß nicht. Vielleicht, weil sie dachte, sie kommt doch noch mal wieder.“
    „Möchtest du das?“
    „Dass Mama wiederkommt?“
    „Ja!“
    „Nein! Das möchte ich nicht.“ Ich musste nicht lange überlegen, um die Frage zu beantworten. Ich war glücklich mit meinem Leben.
    „Ich glaube, dein Vater möchte das aber. Deine Mutter fehlt ihm. Er erzählt oft von ihr.“
    „Aber jetzt hat er dich!“
    „Ich werde eines Tages wieder gehen. Ich bin nur auf der Durchreise.“
    „Wieso?“ Ein dicker Kloß machte sich in meiner Kehle breit.
    „Weil es so ist. So lautete die Bedingung zwischen deinem Vater und mir. Keine Beziehung, keine Gefühle, nur Sex und ich solle mich um dich kümmern.“
    „Die Sonne scheint. Können wir heute etwas unternehmen? Ich habe schulfrei.“ Geschickt versuchte ich abzulenken.
    „Ja, das weiß ich. Dein Vater hat es mir gesagt und er hat auch schon dafür bezahlt, dass ich meinen Arsch bewege. Bezahlt dafür, dass ich dich belustige. Aber weißt du, mittlerweile denke ich, ich will das Geld gar nicht mehr. Ich will es nur noch, wenn ich mit ihm ins Bett steige. Weil er mich anekelt und ich die Augen zu machen muss, wenn ich mit ihm schlafe. Deshalb muss er bezahlen. Als Entschädigung für diese Nötigung, weißt du.“
 Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich wusste es nicht.
    „Sieh mal. Weißt du, was das ist?“
Sie zeigte mir ein kleines Tütchen mit weißem Pulver darin. Demonstrativ legte sie es auf den Küchentisch neben einen Fünfzig Euro Geldschein. Den rollte sie zusammen, kippte das Tütchen aus und schniefte das Pulver durch das Röhrchen abwechselnd ins linke und dann ins rechte Nasenloch.
    „Wenn wir Pech haben, wird das heute nichts mit der Unternehmung. Wenn ich erst drauf bin, dann will ich mehr von dem Feeling und es könnte sein, dass ich mir heute einen drücke. Dann ist der Tag zu Ende, bevor er begonnen hat.
    „Drogen!“, sagte ich leise.
    „Ah, sieh mal einer an. Du kennst dich aus.“ Elvira lachte.
    „Damit macht man seinen Körper kaputt.“
    „Das weißt du seit den Kindern vom Bahnhof Zoo.“ Elvira machte eine abweisende Handbewegung.
    „Ja“, sagte ich wahrheitsgemäß.
    „Das Leben ist doch anders gar nicht zu ertragen, als zu Saufen und Drogen zu konsumieren. Wer will das nüchtern ertragen, dass man seinen Arsch für den Pimmel eines alten Mannes hinhalten muss, der emotional betrachtet, am Ende ist, weil er in der Midlifecrisis steckt oder sich mit Sackläusen infiziert hat. Alles schon da gewesen und mit Geld gar nicht gutzumachen. Aber mit dir ist das echt was ganz anderes, Samira. Sowas habe ich auch noch nie gehabt. Also ich meine, ich musste noch keine Nanny spielen und mit Kindern kann ich es eigentlich gar nicht gut. Sie nerven mich und gehen mir auf den Zeiger. Du aber, bist wirklich liebenswürdig und du wirst mir fehlen.“
    „Du willst gehen?“ Meine Augen wurden riesig groß.
Ein stechender Hieb schlug in meine Brust.
    „Von Wollen kann keine Rede sein. Aber ich will hier nicht einen auf heile Familie machen. Dass ist es nämlich nicht. Es ist ein schmutziger Job. Ein sehr schmutziger und ein kleines, unschuldiges Mädchen wird mit in diesen Dreck hineingezogen. Das kann und will ich nicht länger mit meinem Gewissen vereinbaren.“
    „Wenn du fortgehst, werde ich sehr traurig sein.“ Energisch wischte ich eine Träne weg, die sich in meinem Augenwinkel verirrt hatte. Doch sie ließen sich nicht stoppen. All der Rotz der vergangenen Tage, Wochen, Monate und Jahre, suchte sich ein Ventil.
    „Du kannst ja mitkommen. In meine Welt.“ Elvira zog mich in ihre Arme. Ich wehrte mich nicht, auch wenn mich ihre Liebkosungen jetzt nicht aufheiterten. Von Trost hätte man gar nicht sprechen brauchen. Trösten könnte mich nichts und niemand, wenn Elvira fortginge.
    „Hey, ich will nicht, dass du weinst“, sagte sie. Sanft streichelte sie über meine Haare. Heulend legte ich meinen Kopf an ihre Brust.
    „Ist auch alles Scheiße. Dagegen hilft kein Geld der Welt. Gegen Einsamkeit, gewisse Krankheiten und Liebeskummer ist kein Kraut gewachsen. Und Heroin und Koks vernebeln nur etwas die Realität, stellen sie aber keineswegs ab wie einen Knopf den man drückt, weil man das Fernsehprogramm wechseln möchte. Sei froh, dass du solch einen Shit nicht brauchst.“ Elvira sprach in Rätseln. Vielleicht kam das von dem Zeugs, das sie inhaliert hatte?!
Elvira räumte den Kram vom Tisch. Ihre Hände zitterten. Sie wirkte fahrig an diesem Morgen im September.
    „Also los! Noch bin ich da, lass uns was unternehmen.“ Sie versuchte zu lächeln. Aus der Schublade zog sie ein Taschentuch. „Hier, putz dir mal die Rotznase! Schaut widerlich aus! Und Prinzessinnen weinen nicht!“, sagte sie. „Die reiten auf schönen Pferden und warten auf den Traumprinzen. Hast du eigentlich schon einen Freund?“
    „Nein!“, sagte ich mit hochgezogenen Schultern.
    „Na, wenn du gescheit bist. Männer, braucht niemand. Außer, wenn sie uns ihre Kreditkarte geben und uns freie Hand lassen.“
Wir schlenderten durch die Fußgängerzone der Innenstadt. Elvira kaufte mir ein Eis, eine neue Hose, eine neue Jacke und wir aßen Pizza mit Meeresfrüchten.
    „Dass dein Papa gar keine Angst hat, dass ich dich entführe und Lösegeld verlange.“ Elvira stützte den Kopf auf ihren Fäusten und beobachtete mich beim Essen. Ich staunte über den Tintenfisch auf dem Pizzateig. Vorsichtig hob ich die Tentakel mit der Gabel an.
    „Kannst du ruhig essen. Ist sehr nahrhaft. Eiweiß und ganz viele Proteine.“
    „Ich war noch nie am Meer“, stellte ich fest.
    „Ich auch nicht. Ich war noch nirgendwo außer mit dem Finger auf der Landkarte. Wir könnten ja mal hinfahren, wir zwei.“
    „Wirklich?“ Gedanklich sah ich die Wellen das salzige Wasser an Land spülen. Im Fernsehen hatte ich es einige Male gesehen, das Meer und es war wunderschön.
    „Wir sind nur in die Berge gefahren bisher.“
    „Oh, kannst du jodeln?“
    „NEIN!“, sagte ich lachend.
    „Ich aber. Hat mir meine Oma beigebracht.“ Elvira versuchte sich in einigen Anstrengungen des Jodelns, doch außer einem unverständlichen Gekrächze, bekam sie nichts Vorzeigbares über ihre Stimmbänder gepresst.
Am Abend erlebte ich wieder eine Szene zwischen Elvira und meinem Vater, die mich ängstigte. Ich selbst hätte mich ohrfeigen können für meine Neugierde. Warum musste ich auch immer alles mitbekommen und ansehen wollen? Heimlich den Erwachsenen nachspionieren und durch den Spalt der Schlafzimmertür schauen?
Mein Vater ließ sich an diesem Abend auspeitschen. Elvira trug einen schwarzen Lederrock und hohe Schuhe. Wenn ich genauer hinsah, so erkannte ich, es waren Stiefel.
    Unter den Schmerzlauten meines Vaters ließ sie im gleichmäßigen Rhythmus die Peitsche über seinen nackten Rücken tanzen.
    Ich wollte: „Aufhören!“, rufen, doch ich bekam keinen Ton hervor. Zu sehr lähmten mich die Ereignisse. Elvira benutze Kraftausdrücke die ich nie zuvor gehört hatte. „Wichser! Hurensohn! Du hast es verdient“, schrie sie. In dem Augenblick glaubte ich, mein Vater hätte Elvira erzählt, dass er auch mit mir Sex gemacht hatte und dass dies die Strafe für meine Qualen sei. Aufgebracht und traumatisiert, lief ich in mein Zimmer und versteckte mich unter dem Bett. Wenn die Erwachsenen fertig wären, würde mein Vater ins Zimmer kommen und mich grün und blau schlagen, weil ich von unserem Geheimnis erzählt hatte. Dabei hatte ich kein Sterbenswörtchen gesagt. Weder meiner Mutter, noch Elvira gegenüber, hatte ich das ausgesprochen, was unbedingt hätte ausgesprochen werden müssen. Auch niemandem in der Schule, nicht einmal meiner besten Freundin und auch deren Eltern nicht, hatte ich etwas angedeutet. Wobei es mir oft weh tat, wenn ich die Familien meiner Freundinnen beobachtete, wie sehr sie sich liebten und wie respektvoll sie miteinander kommunizierten und umgingen. 

 

Papas Freundin

    „Papa hat eine Freundin.“
Meine Mutter fiel beinahe aus allen Wolken als ich ihr von Elvira erzählte.
     „Und wie ist er an die gekommen?“ Sie schien sehr an weiteren Details interessiert zu sein.
    „Er bezahlt sie.“ Mit der Aussage wusste ich nicht, ob ich mich nicht in die Nesseln gesetzt hatte. Mama reagierte allerdings sofort.
    „Er bezahlt für was? Für Liebe? Oder hat er eine Nanny für dich eingestellt?“
    „Für Liebe. Aber das mit mir, das macht sie umsonst.“
    „Was ist denn da bei Papa los?“ Meine Mutter schien die Krise zu kriegen. Sie raufte ihre Haare und steckte sich eine Zigarette an. Ich sah sie selten nur rauchen.
    „Hat er eine Nutte bestellt oder was? Das sieht ihm ähnlich. Bloß keine Gefühle zulassen. Hätte er mal besser tun sollen, dann wären wir nicht auseinandergegangen. Aber diese Herzlosigkeit in ihm, die war nicht mehr zu ertragen. Und Geld, Geld ist nicht alles im Leben.“ Mama blies einige Kringel in die Luft. Sie tat auf cool, aber ich merkte, sie ärgerte sich.
    „Die Kohle, die er für die Prostituierte ausgibt, die hätte er mal besser in seine Familie investieren sollen. Ich werde ihn anrufen. Ich will nicht, dass eine Nutte mit meiner Tochter…“ Sie machte eine Pause und holte tief Luft.
    „Dass sich eine Hure mit meinem Kind beschäftigt.“
    „Ich mag Elvira sehr. Sie unternimmt viel mit mir. Bitte ruf Papa nicht an.“
    „Das geht so nicht. Was sind denn das für Sitten? Wenn dein Vater möchte, dass du bei ihm wohnst, dann soll er sich gefälligst um dich kümmern und dich nicht als Anschaffende ausbilden. Wo soll das hinführen?“
    „Elvira hat nichts gemacht.“ Ich nahm Papas Freundin in Schutz. Ich wollte nicht, dass sie uns verlässt. Niemals hatte ich mütterliche Nähe und Liebe erfahren wie von der jungen Frau.
    „Samira. Diese Frau wird von deinem Vater bezahlt, um so zu tun, als würde sie dich leiden mögen. Glaube nicht an Märchen. Aus dem Alter bist du längst raus oder etwa nicht? Dein Vater steckt dem Weib die Kohle zu, damit sie mit dir ins Schwimmbad geht. Sie würde überall mit dir hingehen, solange dein Vater bezahlt. Dreht er den Geldhahn zu, ist Elvira genauso schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht ist. Und dann? Was willst du dann machen? Besser ist es, du suchst dir gleich die richtigen Freunde, Samira.“
    „Sie bleibt bei Papa, auch wenn er sie nicht bezahlt. Sie hat mich gern.“ Mir stiegen Tränen in die Augen. Den hartherzigen Worten meiner Mutter wollte ich keinen Glauben schenken.
     In mein Tagebuch schrieb ich, dass meine Mutter zwischen Elvira und mir einen Keil schieben wolle. Intuitiv spürte ich, sie war eifersüchtig, weil ich Elvira vielleicht ein klein wenig mehr leiden mochte, als sie.
Die Freundin meines Vaters hob ich auf ein imaginäres Podest. Auf der Leiter meiner Gefühle, stand sie ganz oben.
Endlich war da jemand, der sich mit mir beschäftigte. Dass diese Person nur des Geldes wegen nett zu mir sein sollte, das wollte ich nicht glauben.
    Allerdings hatte meine Mutter ihre Androhungen wahrgemacht. Sie hatte Papa angerufen und dem musste sie etwas ganz Fürchterliches erzählt haben, denn er fluchte drei Abende lang und stellte mich anschließend brutal zur Rede, während von Elvira jegliche Spur fehlte. Ich war in ihrem Zimmer gewesen. Angstvoll, meine Befürchtungen könnten sich bewahrheiten, rief ich nach ihr, aber es schien, als sei sie tatsächlich gegangen.
    „Was hast du deiner Mutter erzählt? Dass ich mit einer Hure ficke?“
    „Nein Papa.“
Ich versuchte mich rauszureden. Das schreckliche Wort Hure wollte ich nicht in den Mund nehmen. Ficken und Nutte schon gar nicht.
    „Du lügst doch! Und weißt du was, für jede Lüge die du an den Tag legst, werde ich dich in der Nacht besuchen kommen und bestrafen. Und glaube mir, dein Arsch wird Kirmes feiern. Aber nicht, weil es eine lustige Veranstaltung werden könnte mit uns beiden, sondern weil ich dir mal zeige, was man mit Kindern macht, die nicht hören wollen.
Kaltblütig dirigierte er mich nach dem Telefonat mit Mama in mein Zimmer. Angetrieben von Hass und Rachsucht, drängte er mich vor sich die Treppe hinauf. Ich stolperte, fiel beinahe hin, aber mit Tritten gegen Rumpf und Hüften, setzte er eindringlich nach, dass ich mich gefälligst beeilen solle.
„Ausziehen!“, sagte er schroff.
Ich überlegte um Hilfe zu schreien. Ich ahnte, was mir blühte. Doch es wäre zwecklos gewesen. Niemand würde mich hier hören. Selbst wenn er mich totschlüge, so wären nur die Vögel draußen in den Ästen der Obstbäume die Zeugen einer widerlichen Tat.
Mein Vater zog den Gürtel aus der teuren Designerhose und befahl mir, da ich zitternd auf dem Bett lag, mich bäuchlings zu legen.
    „Ich will deine doofe Fratze nicht sehen“, keifte er.
So fest ich konnte, kniff ich die Augen zu, als er ausholte.
Der erste Schlag traf mich mit voller Wucht über dem Gesäß.
Ich schrie auf.
Mit dem Knie drückte er meinen wehrlosen Körper zurück in die Matratze. Es setzte weitere Schläge.
    „Dir werde ich helfen, Miststück.“
Er war wie von Sinnen, während er den Gürtel über meinen Rücken in sadistischem Freudentaumel, Zeuge meiner Qualen sein zu dürfen, mit Schlägen über diesen nur so tanzen ließ.
    „Deiner Mutter zu erzählen, ich würde mit einer Hure ficken und diese bezahlen, damit sie deine Nanny spielt, ist wirklich das Allerletzte. Willst du, dass sie mir den Anwalt auf den Hals hetzt oder das Jugendamt? Willst du das? Los, antworte mir!“
   „Nein!“, jammerte ich.
    „Und warum tust du es dann?“ Und es setzte abermals Schläge. Noch nie hatte ich meinen Vater so bösartig erlebt wie in diesem Augenblick. Vor Schmerzen glaubte ich unter den Qualen ohnmächtig zu werden.
    „Ich schlag dich tot!“, schrie er.
Als ich zu mir kam, tupfte jemand mit einem kalten Waschlappen sorgsam über meine Stirn. Ich versuchte mich an der Silhouette zu orientieren. Meine Augen sahen alles verschwommen.
    „Ganz ruhig. Er ist weg.“
    „Mama?“, fragte ich schwach.
    „Nein. Ich bin es, Elvira.“
    „Wo ist meine Mama?“
    „Ich weiß es nicht. Nicht hier jedenfalls.“
    „Ich möchte sie sehen. Sie soll sehen, was er mit mir gemacht hat. Ich haben nichts Böses getan. Ich habe nur die Wahrheit gesagt. Warum wird man für die Wahrheit bestraft, Elvira? Warum?“ Tränen liefen über meine Wangen.
    „Das kann ich dir nicht sagen. Weil Menschen im Acker ihres Herzens verdorbenes Korn anbauen, vermutlich.
    „Ich kann so morgen unmöglich in die Schule gehen. Wenn mich meine Mitschüler in meinem Zustand sehen, das möchte ich nicht. Was sollen die von mir denken?“
    „Dass du ein sehr tapferes Mädchen bist.“ Elvira wischte eine Träne mit dem Zeigefinger aus meinem Gesicht fort.
    „Ich kann das nicht mehr zulassen, dass er dir weh tut. Ich muss endlich meinen Mund aufmachen. Zum Jugendamt gehen oder sonst wohin. Aber da gibt es dieses eine Problem.“ Sie seufzte.
    „Welches denn?“, schluchzte ich.
    „Das Geld. Ich brauche die Kohle, um meine Drogen zu finanzieren. Ohne deinen Vater lande ich wieder auf der Straße. Komme genau dorthin, wo ich nie wieder hin zurückwollte. Von einem Fick am Tag oder auch von zweien, kann ich nie so gut leben, wie mit dem Geld, das dein Vater mir an einem Tag bezahlt..“
Meinen Rücken spürte ich nicht mehr. Alles an ihm war taub, blutig, rot, grün und blau geschlagen. Am liebsten wäre ich ins Koma gefallen. Ich fühlte mich nicht mehr fähig, aufrecht zu laufen, geschweige denn, mich hinzusetzen. Was sollte ich der Lehrerin in der Schule erzählen? Dass ich die Treppe runtergefallen sei?
Meine Mitschüler, sie würden mich auslachen. Ich lief wie eine neunzigjährige durch die Gegend. Dass ich nicht auf allen Vieren krabbelte, war alles. Ich war am Ende und Elvira schien es auch zu sein. Sie brauchte dringend einen Druck, wie sie es nannte. Sie hatte wieder angefangen, regelmäßig Kokain zu konsumieren.
    Die Drogen übernahmen den Ablauf ihres Alltags.
Der wurde immer eintöniger.
Unter den Auswirkungen hatte auch ich zu leiden.
Elvira nahm sich weniger Zeit für mich, wirkte gereizt und übellaunig. Sie durchlebte eine Wesensveränderung, die mich erschreckte. Bei meinem Vater bettelte sie um Geld für ihre Drogen.
Machte keinen Hehl daraus, dass sie sich erniedrigen ließ, um zum Ziel zu gelangen. Mein Vater schikanierte sie mit verletzenden Worten. Zwar spielte er sexuell weiterhin den Unterwürfigen, ließ sich von der jungen Frau auspeitschen und durch die Gegend kommandieren wie ein Hund, der auf Kommando Männchen machte, aber auch diese Spiele fanden mit der Zeit ein jähes Ende.
Meinem Vater war es nicht mehr gut genug, sich mit der Frau an seiner Seite in der Öffentlichkeit zu zeigen, von der alle seine Freunde und Geschäftsleute wussten, dass sie auf Speed war und zuvor im Bordell gearbeitet hatte. Schmerzhaft wurde mir bewusst, Elviras Tage in unserem Hause, die waren gezählt.
    „Wenn du gehst, gehe ich mit!“, sagte ich fest entschlossen.
    „Das geht nicht. Das wäre keine Welt für dich dort draußen. Viel zu hart die Scheiße. Das würdest du nicht überleben. Oder willst du dich etwa prostituieren oder zwangsprostituieren lassen?“
    „Wenn es sein muss und ich bei dir bleiben darf, lasse ich alles mit mir machen. Ich will nur nicht ohne dich sein. Ich habe dich lieb.“
Ich war mir sicher, Elvira zu verlieren, wäre bedeutend schlimmer, als meine Mutter verloren zu haben. Auch wenn ich sie jedes zweite Wochenende besuchte, so hing mein Herz eindeutig an der Freundin meines Vaters. Genau deshalb gelang es meiner Mutter, Elvira aus dem Haus zu ekeln. Dass sich das einzige Kind zu einer fremden Frau inniger hingezogen fühlte, als zur eigenen Mutter, ließ sich nicht mit ihrem Ego vereinbaren.
Die letzten Tage mit Elvira im Hause meines Vaters, prägten meine spätere Jugendzeit maßgeblich.
Sie ließ sich gehen. Achtete nicht mehr auf ihr Äußeres. Ihr Make Up und ihr Lippenstift waren verwischt. Sie roch nicht mehr nach Jill Sander und süßlich, sondern eher nach Schweiß, Asphaltstraße und Verderben.
Tütenweise schleppte sie Wodkaflaschen mit ins Haus. Betrank sich während der Abwesenheit meines Vaters und klagte mir ihr Leid. Die leergetrunkenen Flaschen versteckten wir unter meinem Bett, damit sie niemand fand. Auch das Fixbesteck von Elvira, verstaut in einem Rucksack, lagerten wir unter der Matratze.
    „Männer sind der letzte Dreck. Ihnen geht es nur ums Ficken, Samira. Alles andere ist ihnen scheißegal. Du kannst vor ihnen am Boden liegen und krepieren, sie urinieren und koten auf dich, während du dem lieben Gott die Hand schüttelst. Sie lecken deine Brüste und rammen ihren Schwanz in deine Muschi, aber menschliche Werte sind ihnen Fremdwörter.“
Ich ängstigte mich vor Elvira. Besonders wenn sie getrunken hatte oder sich einen Schuss setzte.
    „Was ist nur passiert?“ Ungläubig stand ich vor dem Scherbenhaufen eines Lebens, das nichts mehr wert zu sein schien.
    „Was passiert ist, fragst du? Jeden Tag passiert es. Wir werden ausgenutzt und weggeschmissen. Männer kommen, Männer gehen. Sie bezahlen für Liebe und anschließend schmeißen sie dich weg wie ein unnützes Stück Abfall. Bei deinem Vater ist es nichts Anderes. Er hat mir gesagt, ich könne bleiben solange ich wolle. Mittlerweile denke ich, er will mich unbedingt loswerden und ihm sind alle Mittel recht. Wir haben einen Vertrag und der läuft noch einige Zeit.“
    „Einen Vertrag?“
    „Ja, einen dämlichen Vertrag in dem steht, dass er mich mindestens ein halbes Jahr lang einstellt. Ich arbeite für ihn, schon vergessen?“
    „Nein.“
    „Jetzt will er aber, dass ich gehe. Ich habe kein Dach über dem Kopf, wohin soll ich gehen?“
    „Wo hast du vorher gewohnt?“, fragte ich erstaunt.
    „Auf der Straße.“
    „Einfach so?“
    „Ich habe im Puff gearbeitet und mein Zuhälter war ein Arschloch. Dein Vater kam zum Rammeln. Nicht nur einmal, einige Male stand er in meinem Türrahmen. Zimmer Nummer 13, eine echte Pechnummer, wenn du mich fragst.“ Elvira lachte bitter.
    „Ich habe es deinem Vater besorgt. Nicht nur einmal, sondern er kam regelmäßig zu mir. Er wollte mich aus dem Dreck holen. Hat mir ein besseres Leben versprochen. Eine Wohnung angemietet. Er wollte nicht, dass ich gleich bei euch einziehe. Wegen dir und deiner Mutter, wegen dem Gerede der Nachbarn. Seinen guten Schein müsse er wahren und weißt du was? Es war mir egal. Völlig egal, Hauptsache, ich konnte mich von Alfred diesem Ekel lossagen. Immer nur die Beine breitmachen müssen und gar nicht mehr als Mensch gesehen zu werden, das ist schrecklich! Ich wünsche niemandem diese Erfahrung zu machen.“
Auf meinen nachdenklichen Blick hin, sagte sie seufzend:
    „Alfred war mein Zuhälter. Von morgens bis abends hat er mich anschaffen lassen. Die Freier kamen wie am Fließband. Weißt du eigentlich, wie oft ich mir einen Tripper eingefangen habe? Schlimm. Die wohl schlimmste Zeit in meinem Leben war jene bei Alfred. Und dann die Drogen und der Alkohol, ohne ging es bei mir gar nicht mehr. Meist fing ich schon morgens an zu trinken. Irgendwie musste ich meine Schmerzen ja schließlich betäuben. Aber, er hat es mir versprochen, verstehst du? Dein Vater hat versprochen, dass er für mich sorgt und mir ein besseres Leben schenkt. Ich habe meinen Teil der Abmachung eingehalten. Habe mich mit seiner Tochter beschäftigt. Habe sogar angefangen, sie zu mögen. Wir hätten eine Familie werden können, Samira. Und diese Chance, die hätten wir alle verdient gehabt. So sehr verdient. Aber jetzt, jetzt schickt er mich zurück in die Hölle.“
    „Ja, das hätte ich mir auch gewünscht, eine Familie!“, sagte ich traurig.
    „Und wenn dein Vater sein Wort gehalten hätte, Samira, dann wäre ich nicht mehr rückfällig geworden. Weißt du, mit Geld kann man vieles kaufen im Leben, aber eben nicht alles. Ihr lebt in einem unfassbaren Reichtum. Ich meine, sieh dich mal um. Die Villa, der schöne Garten, die Autos deines Vaters, die Einrichtung eurer Wohnung. Ich habe selten einen Ort gesehen, der schöner war, als dein zu Hause. Selbst die Wohnungen der Zuhälter waren nicht ansatzweise so stilvoll eingerichtet wie das Haus deiner Eltern. Du solltest dich glücklich schätzen. Bekommst alles, was du dir wünschst.“
    „Ich bin aber nicht glücklich“, sagte ich leise.
    „Ja, wie auch? Wenn man Eltern hat, die sich streiten und trennen, das Kind zwischen den Stühlen stehen lässt. Ich finde, wenn man nicht für ein Kind sorgen kann, dann sollte man sich keines anschaffen. Das weiß ich doch vorher, ob ich die Verantwortung übernehmen will und kann.“ Elvira schüttete sich noch ein Glas mit Wodka voll. Sie kippte den Fusel runter, als sei es Wasser. Allein der scharfe Geruch versetzte mich in ein angeekeltes Naserunzeln.
    „Meine Tage sind gezählt. Ich warte nur darauf, dass dein Vater sagt, ich solle verschwinden. Und dann, wo soll ich hingehen? Wieder zurück auf die Straße? Ins Bordell? Das wäre mein sicherer Tod.“
Schluchzend warf ich mich in Elviras Arme.
    „Bitte geh nicht!“, flehte ich sie an.


 

Ein leeres Haus

Seit Tagen regnete es.
Ununterbrochen plätscherte der Regen an die Fensterscheibe meines Zimmers. Der Wind ließ die Rollläden klappern und zog durch jede Ritze. Nicht nur draußen tobte ein Unwetter, auch in meinem Herzen herrschte das Chaos.
    Elvira war fort. Einfach so von einem Tag auf den anderen, verschwunden.
Das Haus war leer und farblos geworden, seit ihrem Verschwinden. Die Freude und das Glück in meinem Herzen, waren mit ihr gegangen.
    Ich hatte immer wieder dieses sonderbare Bild vor Augen. Von dem Tag an, als sie in mein Leben wie von einer Wolke aus dem Himmel mit übereinandergeschlagenen Beinen in unsere Küche gefallen war. Mich anlächelte und sagte, dass sie die neue Freundin meines Vaters sei und ich ein hübsches Mädchen.
Wenn ich in den Spiegel schaute, so erschreckte ich mich. Ich sah nichts Hübsches, nichts Ansehnliches. Alles, was ich mit Schmerzen im Herzen entdeckte, war ein kleines Mädchen mit traurigem Gesicht, das sich so sehr nach Sonnenschein, Frieden und Glück sehnte. 
Mein Vater war seit Elviras Verschwinden wieder in seine alten Gewohnheiten zurückverfallen. Es gab niemanden mehr, den er schikanieren konnte, also musste ich dran glauben. Außerdem gab es niemanden mehr, in dessen Loch er seinen Penis stecken konnte, also musst meines herhalten. Er machte keinen Hehl daraus, dass er sich an mir verging und dabei Befriedigung erlangte. Er sprach die Dinge aus, wie sie wahrscheinlich ausgesprochen werden mussten.
    „Frauen sind zum Ficken da und wenn keine da ist, nehme ich mir ein Mädchen und wenn es meine eigene Tochter ist. Ein Mann kann nicht immer nur Hand anlegen. Ich werde noch krank im Kopf, wenn ich mit dem Samenstau im Sack durch die Gegend laufe.“ Meist hatte er getrunken, wenn er so in der Art mit mir sprach.
Täglich rief er mich ins Badezimmer. Wollte mir beim Duschen zusehen, mich anschließend abseifen und abtrocknen. Er war grob in seinen Handlungen.
    Die Zeiten, in denen ich Papas kleine Prinzessin war, die waren vorbei.
Ich war ein Fickobjekt.
Nicht mehr und nicht weniger.
Ich fühlte mich hundeelend unter den Machenschaften meines Vaters. Wünschte mir Elvira zurück. Sie war der einzige Mensch, der mir gezeigt hatte, was es heißt, einen anderen Menschen zu lieben und zu respektieren.
Einsam saß ich auf der Bank vor dem Seerosenteich. Blickte wie immer, wenn ich traurig war, auf das schimmernde Wasser. Einige, herrliche Koifische zogen ihre Runden. Friedliche Tiere. Sie strahlten Ruhe und Gelassenheit aus.
    „Samira!“, brüllte mein Vater von der Veranda aus.
Ich ließ ihn rufen. Tat so, als hörte ich ihn nicht. Ich wollte nicht länger mit der Aufforderung auf mein Zimmer geschickt werden, mich schon mal auszuziehen, bis Papa so weit wäre um seine pervers Lust an mir auszuleben. Ich wollte das alles hier nicht mehr. Und ich wollte auch dieses Theater vor meiner Mutter nicht länger spielen. Ihr ins Gesicht zu lügen, dass daheim alles in Ordnung sei, das fiel mir immer schwerer. Doch das schlechte Gewissen meinem Vater gegenüber und seine Drohungen, mit denen er mich einschüchterte, ließen mich mein Schweigen nicht brechen. Je mehr ich alles in mich hineinfraß und mich mit dem Wert eines Stück Drecks zufriedengab, weil mir keine andere Wahl blieb, desto unzufriedener wurde ich.
    Ich zerstörte teures Mobiliar und randalierte in meinem Zimmer. Mit der Axt aus der Garage meines Vaters schlug ich mehrere Male in das Holz meines Kleiderschranks. Den Schreibtisch schmiss ich um. Die Schubladen riss ich raus und wirbelte alles durcheinander. Sämtliche Schulhefte, Schreibstifte und Schulbücher verteilten sich auf dem Boden. Mit dreckigen Schuhen sprang ich auf den mir zu Füßen liegenden Sachen herum. Ich rastete völlig aus.
Die aufgestaute Wut und Verzweiflung in mir, suchten sich ein Ventil um Dampf abzulassen und das fand ich in meinen Aggressionen.
    Nachdem ich augenscheinlich so einiges in meinem Zimmer kurz und klein geschlagen hatte, warf ich mich auf mein Bett und heulte eine Runde. Mir geisterten schreckliche Hirngespinste durch den Kopf, vor denen ich nicht einmal weglaufen konnte. So wünschte ich, meine Brüste abschneiden zu können, damit Papa nicht mehr erzählte, dass er es toll fände, dass endlich mal etwas wüchse an meinem Oberkörper. Er fummelte an ihnen herum und nahm sie in Augenschein, als sei er Optiker, der einem Blinden eine Brille verpasste.
„Da wird noch ordentlich was kommen“, hatte er gestern gesagt. Er klang zufrieden, während ich am liebsten vor Scham im Erdboden versunken wäre. Seine Finger kniffen in meine winzigen Brustwarzen, was sehr schmerzhaft war und seine Zunge stieß jedes Mal gegen mein Zäpfchen, wenn er mich küsste. Ich stellte das Essen ein. Aus Angst, meinem Vater eines Tages ins Gesicht kotzen zu müssen, nahm ich kaum noch feste Nahrung zu mir. Zusehends wurde ich dünner, war nur noch ein Schatten meiner selbst, aber niemanden interessierte das.
    „Na, hat dein Vater die Nutte endlich vor die Tür gesetzt oder hat sie ihm den Laufpass gegeben?“ Meine Mutter platzte vor Neugierde. Wünschte meinem Vater nur das Schlechteste, das sah ich ihn ihrem hassverbitterten Gesicht.
    „Sie ist freiwillig gegangen“, murmelte ich. Ich wusste nicht, mit welchen Antworten ich sie zufriedengestellt hätte. Und zu Hause bei Papa hatte ich dasselbe Spielchen andersherum.
    „Du sagst doch aber deiner Mutter nichts? Erzählst ihr nichts von unserem kleinen Techtelmechtel? Und von Elvira sagst du ihr bitte auch nichts. Sag ihr, sie sei verschwunden. Einfach so abgehauen oder erzählt ihr eine Geschichte. Du kannst doch so gut Geschichten erzählen! Hattest du nicht neulich in der Schule in Deutsch eine gute Note bekommen für einen Aufsatz?“
    „Und was ist, wenn ich Mama etwas erzähle?“
Mein Vater legte die Zeitung auf den Tisch, in der er soeben noch gelesen hatte. Sein Augenausdruck ähnelte dem eines wilden Stieres, der jeden Augenblick zum Angriff übergehen wolle. Er versuchte mich mit Drohblicken einzuschüchtern. So, wie er es immer tat.
Ich blieb standhaft. Ich schaute nicht weg oder auf meine Knie, wie ich es sonst immer tat. Ich wich seinem Blick nicht aus, nein, ich hielt ihm stand. Was sollte passieren? Vergewaltigen würde er mich ohnehin. Schlagen sehr wahrscheinlich auch. Ich hatte mich an die Schmerzen gewöhnt und ich würde sie ertragen. Davon würde ich nicht sterben. Sterben würde ich jedoch, wenn dieser Missbrauch nicht endlich aufhörte. Jeden Tag, an dem er mich wie Dreck behandelte, starb ich ein kleines wenig mehr.
    „Wenn deine Mutter erfährt, was ich mit dir gemacht habe, wird sie die Polizei benachrichtigen. Die wird mich verhaften. Willst du das?“
    „Warum sollte dich die Polizei für Liebe verhaften, Papa?“
    „Weil es eine verbotene Liebe ist. Eine Liebe, von der niemand etwas erfahren darf. Für alles was verboten ist, wandert man ins Gefängnis, wenn man die Regeln bricht. Willst du, dass ich ins Kittchen gehe? Willst du das? Willst du tatsächlich deinen eigenen Vater in den Knast bringen?“
Ich schüttelte den Kopf.
Nein, das wollte ich natürlich nicht. Zumindest noch nicht mit dreizehn Jahren. Noch waren meine Ängste größer als der Mut, sich gegen Ungerechtigkeiten aufzulehnen.
Doch im Laufe der Jahre sollte sich das ändern.

    

 


Es war Sommer

Der letzte Bus. Ich musste ihn erwischen, unbedingt!
Ich nahm die Beine in die Hand und rannte, was die Muskeln und Lunge hergaben. Verpasste ich den 270 er, müsste ich nachhause laufen oder meinen Vater anrufen, ihn darum bitten, dass er mich am Bahnhof abholte.
Alles, bloß das nicht! Lieber wanderte ich in die Hölle und schüttelte dem Teufel die Hand, als meinen Vater um einen Gefallen zu bitten.
Noch einmal holte ich Luft und beschleunigte. Allein der Gedanke, ihm ausgeliefert zu sein, verlieh mir die Kräfte, einen Marathon zu laufen.
    Meine Arme ruderten, die Umhängetasche die Melanie mir zum Geburtstag geschenkt hatte, mit dem pinkfarbenen Batikmuster, die ich abgöttisch liebte, flog mir um die Ohren. Meine Haare, vom Regen klatschnass, peitschten mir ins Gesicht. Mein Atem überschlug sich und im Laufen rempelte ich eine ältere Frau an, die mir beleidigende Worte nachschimpfte.
    „Tschuldigung!“, schrie ich. Es tat mir wirklich leid.
Einen kurzen Blick unter meinen Ellenbogen geworfen, sah ich, dass die Frau taumelte. Nein, ich stoppte nicht, ich musste diesen verdammten Bus kriegen.  
Die Türen des Fahrzeugs schlossen sich. Der Blinker leuchtete. Ich fluchte!
    „Hey! Warte, Arschloch!“
Verzweifelt winkte ich dem Bus nach.
Mehrere Male schlug ich die Arme hektisch über meinen Kopf, von rechts nach links und verfluchte den Tag, an dem meine Mutter mich aus dem engen Tunnel zwischen ihren glattrasierten Beinen ins Licht dieser verkommenen Welt gepresst hatte. Ich besaß alles in diesem Leben. Alles, nur kein Glück! Das ganze Leben war für den Arsch. Zumindest meines.  
    Der Bus scherte ohne auf mich zu warten, nach links auf die Fahrbahn. Wieder einmal hatte ich ihn verpasst. Chancen- und hoffnungslos, dass er doch noch anhalten könnte, weil mich der Fahrer im Seitenspiegel sah, drosselte ich völlig außer Atem, mein Tempo.
    Dass der Bus weg war, war Frau Dittmanns schuld. Warum hielt sie mich immer so lange bei sich fest, wo sie genau wusste, dass der Bus und Bahn nicht auf mich warteten. Mit ihrem Dackelblick servierte sie mir selbstgebackene Kekse und heißen Kakao, wobei ich beides immer strikt ablehnte, obwohl es mir in der Seele weh tat, sie zu enttäuschen. Sie war schrecklich einsam. Der frühe Tod ihres Mannes, keine Kinder, keine Gespräche und keinen Kontakt zur Außenwelt, fühlte sie sich von Gott und der Welt verlassen.
    „Ach Gott, Kindchen, du musst was essen! Du bist viel zu dünn!“ Nein! Musste ich nicht! Allerdings wollte ich nicht unhöflich sein. Menschen weh zu tun, lag mir fern. Wobei ich mich des Öfteren erwischte, gedanklich das Gegenteil auszuleben, seit Papas Methoden, mit denen er mich bestrafte, an Brutalität zunahmen.
Noch immer hatte ich es nicht geschafft, mich aus der Abhängigkeitshölle zu befreien.
In meiner Brust tobte ein Tsunami aus Hass und Verzweiflung. Ein Höllenfeuer, das meine Tränen nicht besiegten. Gedanklich ging ich nicht selten willkürlich mit dem Messer auf Menschen los und rammte es ihnen mit aller Gewalt in die Brust. Allen voran meinem Vater. Die Schmerzen die er mir zufügte, waren kaum mehr zu ertragen und nur zu gern hätte ich sie an ihn zurückgegeben.
        „Fuck!“, schmetterte ich der alten Frau ins Gesicht, die mich schnaufend eingeholt hatte und den Inhalt ihrer Plastiktüte einsammelte. Ich bückte mich und half ihr, die Äpfel aufzulesen, die kreuz und quer über die Straße rollten.
    „Junges Fräulein, etwas mehr Benehmen könnte Ihnen gewiss nicht schaden“, japste sie vorwurfsvoll. Sie trug eines dieser durchsichtigen Regencapes aus Plastik auf ihrem grauen Haar. Diese hässlichen Dinger, die man für einen Euro im Ramschladen kauft. Ich hätte mir solch ein schräges Teil nicht für eine Million umgebunden. So ein Scheißdreck, dachte ich verärgert. Das Cape, die alte Frau mit dem runzligen Gesicht und den vielen Falten auf der Stirn, der Busfahrer, mein Vater, den ich nicht anrufen wollte, alles kotzte mich an. Ich hätte in dem Augenblick, als ich den Bus verpasst hatte, Gott und die Welt in den Arsch treten können.
    Papa würde mir was erzählen, wenn ich ihn jetzt anriefe. Und nicht nur das. Die Bestrafung für mein Versagen, könnte ich, wenn es schlecht lief, mit meinem Leben bezahlen. Außerdem war er um diese Uhrzeit sicherlich längst betrunken.
    Nicht nur einmal deutete er an, dass es ihm scheißegal war, wenn ich verrecken sollte oder tot wäre. Immer dann, wenn er getrunken hatte, aber seine Worte trafen mitten ins Herz. Warum nur plagte mich diese elendige Angst, meinen Vater anzurufen und ihn zu bitten, mich abzuholen?
Nur, weil ich den Bus verpasst hatte, durfte er ausrasten und mich bestrafen? Weil ich ihn bitten musste, mich nachhause zu fahren? War es nicht normal, dass Eltern ihre Kinder von Freunden oder von Partys abholten und gerade dann, wenn sie die öffentlichen Verkehrsmittel verpasst hatten? Weil sie sich sorgten, dass ihnen etwas passieren könnte, wenn sich niemand kümmerte.
    Die Welt dort draußen, sie war schlecht und die Menschen in ihr taten ihr Übriges dazu.
Warum lief in meiner Kindheit eigentlich alles verkehrt, während die Eltern von meiner besten Freundin Melanie, wahnsinnig liebe Menschen waren? Es war Papas Idee gewesen, dass ich der alten, nach Moschus stinkenden Nebelkrähe im Haushalt zur Hand gehen und ihren Hund ausführen sollte, um mein Taschengeld aufzubessern. Wenn ich an den Geruch der Ollen dachte und an die Ausdünstungen ihres Hundes, wenn er pupste, wurde mir speiübel. Noch übler, als wenn ich an meinen Vater und seine Machenschaften dachte.
Dabei mochte ich Tiere wirklich sehr gern und ja, ich gab mir Mühe, freundlich zu sein zu dem hässlichen Mops von Frau Dittmann, der durch die plattgedrückte Nase kaum atmen konnte.
    „Für deinen Führerschein sollst du den Nebenjob wuppen und sonst für nichts!“, lauteten Papas eindringlichen Worte. Emotional ging ihm doch einer dabei ab, dass ich mit Arbeiten beschäftigt war, während meine Freunde faulenzen und relaxen durften. Er liebte es mich zu schikanieren.
Mit ungläubigen Augen sah ich meinen Vater an, als er mir die Adresse zum Hundesitten in die Hand drückte. Er hatte tatsächlich ernst gemacht.
   „Sie braucht jemanden wie dich, die Dittmann. Du kennst dich mit Hunden aus.“
    „Ich kenne mich mit Hunden aus? Wir haben nie einen Hund gehabt, Papa.“
    „Hättest du denn einen haben wollen?“  
    „Vieles hätte ich haben wollen, Papa aber du hast nie Zeit gehabt, dir meine Wünsche anzuhören.“
    „Hey Prinzessin, jetzt wirst du ungerecht. Bekommst du nicht alles, was du haben möchtest?“  
    „Ja Papa. Vor allem bekomme ich Liebe.“
    „Das will ich aber doch wohl meinen.“
Zähneknirschend nahm ich den Job bei Frau Dittmann an.
Verweigerte ich die Anordnungen meines Vaters, setzte es zuhause den Affentanz auf Erden.
Notgedrungen führte ich den Mops namens Günter einmal an drei Tagen des nachmittags nach Schulschluss um den Wohnblock. Für meine Aufwendungen und Mühen kassierte ich fünf Euro. Bis ich das Geld für meinen Führerschein zusammengespart hätte, dauerte es wahrscheinlich mehrere Jahre und noch länger.
    „Das lohnt doch gar nicht“, foppten mich meine Freunde. Während ich mit dem Hund an der Leine durch den Park marschierte, lagen sie faul auf ihren Handtüchern im von der Gemeinde kurzgemähten Rasen und hielten ihre Gesichter in die Sonne.
Neben ihnen dudelte das Radio auf voller Lautstärke. Dazu gab es Bier und Zigaretten. Manchmal auch einen Joint.
Die Lärmbelästigung vom Gegröle und der Heavy Metal Mucke interessierte niemanden. Außer vorbeilaufende Passanten und Jogger, die sich kurz beschwerten.
    „Elendes Pack!“, hieß es nicht selten.
    „Lotterleben!“, nannte Papa den Zustand meiner Freunde.  
    „Und du, komm mir ja nicht auf die Idee, es diesen hirnlosen Idioten gleichzutun und den lieben Tag lang rum zu gammeln oder dem Staat auf der Tasche zu liegen. Ich will nicht, dass meine Tochter zu diesem asozialen Pack gehört, das in zwanzig Jahren unsere Welt zugrunde richtet.“
    „Es sind meine Freunde, Papa!“
    „Das sind keine Freunde. Das sind Verbrecher. Sie alle werden später jene Erwachsene sein, vor denen wir uns heute schon fürchten. Dealer, Zuhälter, Kriminelle und Verbrecher.“
    „Also werden sie so sein wie du!“, sagte ich.
    „Sie werden schlimmer!“, antwortete er. Wegen meiner Antwort rechnete ich mit einer Ohrfeige, doch mein Vater schlug mich immer genau dann, wenn ich mich nicht in der Hab Acht Stellung befand.  
Den letzten Bus von hinten gesehen, müsste ich jetzt entweder trampen oder meinen inneren Schweinehund überwinden und ihn anrufen.
    Vom Regen durchweicht und frierend, wäre es sinnvoll, seine Nummer zu wählen, obwohl ich das wirklich nur sehr ungern und im äußersten Notfall tun wollte. Seine Lieblosigkeiten ließ er mich zu jedem bestmöglichen Zeitpunkt spüren. Vor allem dann, wenn ich auf ihn angewiesen war und seine Hilfe benötigte. So wie jetzt.  
Ich wusste genau, was er mir erzählen würde, wenn ich von meinem Malheur berichtete.
    „Du bist für alles zu dämlich. Selbst zum Laufen. Geh doch einfach früher zur Haltestelle und beweg deinen Arsch mal ein bisschen schneller. So was Faules und Bequemes wie dich, ist mir meinen Lebtag noch nicht begegnet.“
Hauptsache, seinen Frust konnte er an mir abladen.
Übellaunigkeit von schlechtgehenden Geschäften der Firma, vom unbefriedigtem Sexualleben und Ärgernissen mit den Angestellten. Verletzend, anklagend, gewalttätig und beleidigend zu sein, war in meinen Augen alles, was ER konnte.
    „Mach dir nichts draus. Ein Narzisst wie er im Buche steht, dein Vater“, sagte Mama. Ich hatte ihr von seinem Verhalten erzählt. Von den sexuellen Misshandlungen allerdings nicht. Ich wollte nicht, dass mein Vater ins Gefängnis wanderte. Die Hemmschwelle, das Schweigen zu brechen, lag noch immer zu hoch.
    „Was ist ein Narzisst?“, fragte ich.
    „Ein Mensch, der andere Menschen zu seinem Vorteil manipuliert.“
    Manchmal schüttete ich meiner Mutter mein Herz aus. Sagte ihr, dass ich unter dem strengen und unfairen Regime meines Vaters litt wie eine Hündin die man stets in die Flanke trat und fortscheuchte, wenn sie um Liebe bettelte. Im Älterwerden stellte ich Mama die Frage, ob Papa überhaupt mein Erzeuger war oder ob da nicht jemand anderes infrage kommen könnte. Von meiner Leidensgeschichte erzählte ich kein Wort. Das, was Papa mir antat in seinen perversen Neigungen, die er an mir auslebte, blieb seit Jahren ein dunkles Geheimnis zwischen uns.  
    „Das Wichtigste im Leben ist Geld und davon hat dein Vater mehr als genug. Wir konnten uns alles kaufen was wir wollten. Es war eine gute Zeit mit ihm. Ich will nicht schlecht über ihn reden. Allerdings ging eines Tages die Liebe zwischen uns und da war die Trennung der beste Weg.“
    „Warum geht die Liebe einfach so, Mama?“
    „Tja, wenn ich das wüsste. Ich wurde des Morgens neben deinem Vater wach und wusste, das ist nicht der Mann, mit dem ich alt werden möchte und auch nicht bis an mein Lebensende zusammenbleiben will.“
    „Ja“, sagte ich.
    „Dein Vater ist ein reicher, angesehener Mann im Ort. Das Leben mit ihm war mir mehr wert als mit einem Typen zusammen zu sein, der mir nach dem Mund redet und im VW Polo zum Arbeitsamt fährt, um sich die neuesten Jobangebote präsentieren zu lassen. Dein Vater hat es zu was gebracht im Leben und das imponierte mir schon als junges Mädchen. Zu ihm konnte ich aufschauen, falls du verstehst, was ich meine.“
    Mamas Sprüche verstand ich mit dem Älterwerden.
Geld und Reichtum regierten die Welt. Das hatte schon Elvira gesagt. Mit ihrer gleichgültigen Art mir gegenüber, stieß meine Mutter jedoch nicht nur bei mir auf wenig Gegenliebe, sondern auch im Bekanntenkreis rümpfte man die Nase über ihr egoistisches Verhalten.
Besonders, weil sie mich nach der Trennung im Stich gelassen hatte.
    „Auch, wenn es deine Entscheidung war, bei deinem Vater zu bleiben, so hätte deine Mutter um dich kämpfen müssen“, meldeten sich erboste Stimmen zu Wort.
Gegenüber denjenigen, die nicht unseren Wohlstandsstatus genossen, die, wie Mama sagte, unter unserem Niveau lagen, reagierte sie zum Teil schnippisch und verachtend. Meine Mutter konnte es sich durchaus leisten, ihren Bekanntenkreis zu kaufen. Bei meinen Freunden versuchte sie es gleich mit, das gelang ihr jedoch nicht. Mir kam da ein prägnantes Beispiel vor Augen, an das ich mich stets erinnerte, wenn ich meine Mutter besuchte.
    Eine Klassenkameradin von mir, die ich wirklich sehr mochte, sie mich allerdings weniger, hatte meine Mutter einladen wollen, den Familienurlaub mit uns zusammen in den Bergen zu verbringen. Sie glaubte, dass sich das Verhältnis zwischen uns Kindern besserte, wenn sie Kohle springen ließe. Mit Geld könne man alles kaufen, sagte sie.
    „Wirst sehen! Die Laura frisst uns noch aus der Hand! Mit Speck fängt man Mäuse“, sagte sie.
Von sich und ihrer Idee überzeugt, aus Laura und mir beste Freundinnen zu machen, zwinkerte sie mit den Augen. Laura jedoch hatte keinerlei Interesse, mit mir und meinen Eltern in den Urlaub zu fahren. Dies teilte uns ihr Vater mit. Der stand eines Abends ziemlich aufgeregt bei uns in der Tür und fragte meinen Vater mehr als zornig, was er und Mama sich eigentlich erlaubten und dabei dachten, seine Tochter versklaven zu wollen.
    „Ich lasse mein Kind nicht mit fremden Menschen in den Urlaub fahren!“, knurrte er.
Traurig beobachtete ich den Vorfall hinter der Scheibe meines Kinderzimmerfensters.
Papa wusste natürlich von nichts, als Lauras Vater ihn zur Rede stellte. Zunächst legte er seine berühmt berüchtigte Unschuldsmiene auf. Später, nachdem Herr Krüger verschwunden war, stellte Papa meine Mutter zur Rede. Da flogen die Fetzen bei uns daheim. Ich hatte Sorge, dass Papa meine Mutter jeden Augenblick verprügelte.
    „Unsere Tochter hat keinerlei Freunde. Ist dir zwischen deiner Arbeit und der permanenten Abwesenheit noch gar nicht aufgefallen, was?!“, schimpfte Mama.
    „Mag sein, dass Samira keine Freunde hat. Dass wir diese für unser Kind allerdings kaufen sollen, will mir nicht in den Schädel gehen. Du hast sie doch nicht mehr alle! Vor allem, als ob wir nichts Besseres zu tun hätten, als unser sauerverdientes Geld aus dem Fenster zu schmeißen.“
    „Niemand mag Samira besuchen. Hast du dich mal gefragt, warum?“
    „Nee, habe ich nicht. Ich habe andere Dinge zu tun, als mich mit dem Innenleben einer pubertierenden Göre zu beschäftigen.“ 
Das Ende vom Lied, niemand von uns fuhr in den Urlaub. Mama sagte alle geplanten Aktivitäten ab. Ihre Sachen legte sie trotzdem beieinander und auch ich sollte meinen wichtigsten Krempel zusammenpacken.
    „Wir fahren ins Ferienhaus. Bis dein Vater sich wieder beruhigt hat!“, sagte sie.  
Das Spielchen spielte Mama gern.
Sachen packen, Papa in den Arsch treten und mir nichts dir nichts, von der Bildfläche verschwinden. Solange, bis mein Vater reumütig nach ehrlich klingenden Entschuldigungen suchte und Mama auf Knien anflehte, zu ihm zurückzukommen. Mama ließ ihn meist zappeln, doch dann fasste sie den Entschluss, endgültig die Reißleine zu ziehen. Während ich im Liegestuhl in der Sonne lag, meine Narben und Blessuren, die Papa mir zugefügt hatte, vor meiner Mutter unter dem langärmeligen Shirt bei dreißig Grad im Schatten, verdeckt hielt und mich an den Gipfeln der Alpen sattguckte, telefonierte sie nonstop und arbeitete an ihrem Laptop. Wenn ich mir eins geschworen hatte, dann, wenn ich achtzehn Jahre alt wäre, ich sofort von zu Hause ausziehen wollte.

    „Also wirklich, keinen Anstand die Jugend von heute!“ Die Oma die ich angerempelt hatte, holte mich vom Gletscher und den Streitigkeiten meiner Eltern zurück auf den Boden der Tatsachen.
    „Ich hätte auch mit dem Bus fahren müssen. Habe ihn verpasst“, fluchte sie.
    „Ich fahre per Anhalter!“, seufzte ich.  
    „Bitte was? Das ist gefährlich“, krähte die Alte.
    „Meinen Vater rufe ich nicht an. Lieber trampe ich.“ Oftmals führte ich Selbstgespräche. Manchmal gab es auch imaginäre Freunde oder Tiere an meiner Seite, mit denen ich mich unterhielt um dem tristen Grau meiner Welt zu entkommen. Eine Welt, in der jeder nur noch an sich dachte und in seine eigene Illusion zu flüchten versuchte. Den Kragen meiner dünnen Trainingsjacke legte ich enger an den Hals. Zielstrebig lief ich quer über die Seitenstraße Richtung Bundesstraße. Dort hätte ich sicherlich mehr Glück, mitgenommen zu werden.
Die Regenplörre tropfte von meiner Stirn.
    Was für ein Shietwetter! Das Wasser schwappte knöcheltief in meinen Schuhen. Jeder Schritt wurde zur Tortur. Es machte: Pietsch platsch, pietsch platsch. Irgendwer würde mich schon mitnehmen.
Und wenn nicht, liefe ich die zehn Kilometer Fußweg nachhause. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Fahrer hinter dem Lenkrad des ersten Wagens der anhalten sollte, kein Mann sein mochte. Die Vorstellung, bei dem Mistwetter noch mehr als zehn Kilometer laufen zu müssen, war ebenso wenig angenehm, als den Daumen auszustrecken. Die eindringlichen Worte meiner Mutter riefen sich mir mahnend in Erinnerung.
    „Steig niemals zu fremden Männern ins Auto. Selbst wenn sie dich mit Schokolade und Süßkram locken, laufe lieber so schnell du kannst fort und rufe laut um Hilfe.“
    Heute hätte wohl ich dem Fahrer, der mich einsammelte, Schokolade anbieten müssen. Immerhin würde ich mit meiner triefnassen Hose die Sitzbezüge und mit den dreckigen Schuhen den Fußraum seines Wagens versauen.
Einige Male zeigte ich mit dem Daumen die Richtung an, in die ich mitgenommen werden wollte, während die Autos an mir vorbeifuhren und das dreckige Regenwasser hoch aufspritzte. In der Hoffnung, einer der Wagen würde anhalten, ließ ich mich rückwärtslaufend, vom Wind vorantreiben.
    Bei einem schwarzen Passat Kombi, der zeitig den Blinker setzte, schien ich Glück zu haben.
Langsam ließ der Fahrer das Fahrzeug auf dem Seitenstreifen ausrollen.
Die Rückleuchten blinkten rot, der Wagen stoppte und die Beifahrertür öffnete sich. Erleichtert lief ich hin.
    „Hey Hübsche, wohin des Weges?“
Jemand von körperlich großer Statue, stieg aus. In den Wirren des Regens war nicht zu erkennen, wie alt und welchen Geschlechts. Ich schätzte männlich, um die zwanzig.
    „Richtung Frankenberg“, japste ich.   
    „Was für ein Zufall! Genau dort müssen wir lang. Komm, steig ein, Schätzchen, wir nehmen dich mit!“
Der Typ vom Beifahrersitz hielt die hintere Tür auf.
Ich zögerte. Sein Atem schlug mir entgegen. Wrigleys Spearmint. Blitzweiße Zähne funkelten. Der Typ sah gut aus und das schien ihm bewusst zu sein.
    „Hallo!“, sagte er freundlich. Seine blauen Augen strahlten eine angenehme Wärme aus. Weil ich mich nicht gleich entscheiden wollte, einsteigen ja oder nein, zog er die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf.
    „Bist wohl aus Zucker, was?“, lachte eine Stimme aus dem Wageninneren. Vorsichtig lugte ich durch die geöffnete Tür. Auf der Rückbank saß ein Mädchen etwa in meinem Alter. Knapper, schwarzer Minirock, aschgraues, ängstliches Gesicht, fettige Haare, die Hände in den Schoß gelegt, wagte sie es nicht, mich anzusehen.
Sie wirkte eingeschüchtert und verängstigt.
Den Kopf gesenkt, starrte sie auf ihre dürren Knie, dessen Knochen sich berührten.
Neben ihr saß ein Mann in Jeanshosen und kariertem Holzfällerhemd, vielleicht Mitte dreißig. Den Fahrer konnte ich nicht einschätzen. Er schenkte mir keinerlei Aufmerksamkeit.
     „Wir beißen nicht!“, sagte der Typ mit dem Kaugummi.
    „Wollt ihr da draußen jetzt etwa Kaffeekränzchen halten oder sollten wir nicht langsam Gas geben? Willst du jetzt mit oder nicht?“
Der Fahrer drängte zum Einstieg.
    „Also was ist jetzt? Oder möchtest du lieber im Regen nachhause laufen, Püppi?“
Püppi hatte mich noch keiner genannt. Mir war nicht wohl dabei, in den Wagen der Jugendlichen zu steigen. Sie schienen mir suspekt.
    „Ich glaube, ich laufe lieber!“, sagte ich ängstlich.
Die Worte meiner Mutter hingen mir nach.
Niemals in ein fremdes Auto einsteigen, niemals.
Schon gar nicht zu älteren Männern. Diese Leute hier waren in meinem Alter, höchstens ein paar Jahre älter.
Bis auf den Mann neben dem dünnen Mädchen. Es wäre nichts dabei, wenn ich mich überwindete, einzusteigen. Was sollte passieren? Ich haderte mit mir.
    „Also gut, wenn Ihr mich mitnehmt! Sehr nett von euch! Vielen Dank“, sagte ich und kletterte auf den Rücksitz.
Ein verhängnisvoller Fehler, den ich zutiefst bereuen sollte.


 

Sex

    „Ich bin der Alex. Der Fahrer neben mir, weltbester Mann übrigens, wenn es um das Einsammeln von Anhaltern geht, ist mein Kumpel Ben. Hinten auf dem Rücksitz siehst du Schneeflittchen und daneben den Rudolf, aber nicht das Rentier!“ Alles lachte. Die Stimmung war unbeschwert und heiter. Zunächst hegte ich keinen Verdacht, dass man etwas im Schilde führen könnte.
    Der kaugummikauende Alex stellte mir der Reihe nach seine Freunde vor, während wir in die anbrechende Dunkelheit des Abends fuhren.
Mit seinen Sprüchen versuchte er vorwitzig zu sein, mich irritierte jedoch, dass er nicht zum Anschnallgurt griff.
    Das Mädchen neben mir, es zitterte und schien von der Stimmung her, weniger gut drauf zu sein.
Erst jetzt sah ich die Narben auf ihren Unterarmen. Borderline, schoss es mir in den Kopf.
Das Prozedere der Selbstverstümmelung kannte ich von meiner ehemaligen Klassenkameradin Rosi.
Das Mädchen mit den Sommersprossen wurde wegen ihrer roten Haare von den Mitschülern gemobbt.
    „Rote Hexe“, riefen sie.
    „Verbrennt die Schlampe! Auf den Scheiterhaufen mit ihr!“ Rosi litt sehr unter den emotionalen Misshandlungen ihrer Mitschüler. In der Schule gehörte sie zudem zu den miserablen Schülerinnen und das verbesserte ihre gesellschaftliche Position innerhalb der Klasse natürlich nicht. Eine dumme, rothaarige Hexe, hieß es. Wer wollte schon mit solch einem Mädchen befreundet sein? Rosi ritzte regelmäßig mit der Rasierklinge ihres Vaters tiefe Fleischwunden in die Haut ihrer Arme. Während des Unterrichts spielte sie mit dem Blut, das provokant sichtbar, für uns alle aus den Wunden auf den Klassentisch tropfte. Mit dem Zeigefinger malte sie Muster und Figuren in die Blutlache. Niemand von den Lehrern ermahnte sie. Keiner erkundigte sich nach ihrem Befinden. Den Erwachsenen war es egal, wenn eine zarte Kinderseele an der Kaltschnäuzigkeit ihrer eigens egoistischen und herzlos zusammengebastelten Welt, zugrunde ging. Alle sahen über das Elend eines jungen Mädchens hinweg, in dessen Augen das eigene Leben nichts mehr wert war.  
    Frau Becker, unsere Klassenlehrerin, nahm wortlos das Papier aus dem Spender neben dem Waschbecken und wischte die blutige Sauerei nach Unterrichtsschluss kommentarlos weg.
    Wie gern hätte ich ihr meine Arme gezeigt. Auch ich fügte meinem Körper regelmäßig Schmerzen zu, in dem ich brennende Zigarettenstummel an ihm ausdrückte. Man musste gar nicht weit schauen, um Gottes vergessene Kindern zu finden. Sie waren überall, doch niemand scherte sich um uns.
Wir erlangten keinerlei Aufmerksamkeit, weil viele Erwachsene mit sich selbst beschäftigt waren und lieber mit Scheukappen durch das Leben liefen, als die Not ihres Nachwuchses wahrzunehmen und nach Lösungen zu suchen. Ich wollte Rosi immer mal in meine Arme nehmen und ihr sagen, dass ich es mutig fand, dass sie aus dem Blut etwas Schönes zu kreieren versuchte, doch ich traute mich nicht, gegen den Strom der Klasse anzuschwimmen. Meine Freunde warfen mich vermutlich gleich mit auf den Scheiterhaufen, wenn ich mich auf die Seite der Verliererin schlüge.

    „Wir hätten dort abbiegen müssen!“, sagte ich.
Entsetzt blickte ich aus dem Fenster.
Die Kreuzung hatten wir verpasst. Mein Herz klopfte hastig ein paar Extraschläge. Ich wurde nervös. Was war, wenn die Typen hier? … Wenn sie was vorhatten mit mir? Was Kriminelles? Oder sogar etwas noch Schlimmeres?
    „Alle Wege führen nach Rom und gewiss auch zu dir nachhause, also entspann dich, Püppchen! Außerdem, du weißt gar nicht, wohin wir fahren.“
Seine Betonung lag auf wir. Alex lachte. Beruhigen taten mich seine Worte nicht.
    „Erzähl mal. Wo kommst du her, wo willst du hin?“
Ben, der Älteste, grinste mich an.
Es war weder ein freundlicher Gesichtsausdruck, noch einer, der ehrliches Interesses an meiner Geschichte zeigte.
Nonstop gaffte der Typ auf meine Oberweite.
Das dünne Shirt, das ich trug, war vom Regen komplett durchweicht. Meine Brüste zeichneten sich unter dem seichten Stoff ab. Peinlich berührt von den Blicken der Jungs, kreuzte ich die Arme über meinem Oberkörper.
Rudolfs Blicke hatten was von Wollust.
Nein, ich irrte. Ich musste irren. Niemand würde mich notgeil ansehen, wenn er nichts Böses im Schilde führte.
Ein Fremder schon gar nicht.
    „Wie alt bist du, Püppi?“ Rudolf umkreiste mit der Zungenspitze seine spröden Lippen.
Dieses Bild erinnerte mich an meinen Vater. Ekelhaft! Einfach ekelhaft, was er tat!
    „Können wir bitte anhalten? Ich möchte aussteigen. Den Rest kann ich zu Fuß laufen!“ Ich versuchte freundlich zu bleiben. Jetzt bloß niemanden im Wagen unnötig reizen. Ich kannte solche Spielchen von Papa.
Sichtbar nervös, fummelte ich an meiner Tasche.
In der steckte mein Handy. Ich könnte den Notruf wählen oder irgendwen anrufen.
    „Warum anhalten? Du bist doch eben erst zu uns gestiegen! Und wir freuen uns alle, dass du hier bist, nicht wahr?!“, äffte Alex.
Bernd und Rudolf lachten. Nur das Mädchen, keine Ahnung wie es hieß, das lachte nicht. Noch immer richtete es stur den Blick auf die Seidenstrumpfhose der dürren Oberschenkel. Es wirkte angespannt und verängstigt.
Der Typ auf dem Fahrersitz gab Gas.
   
 „Nicht, dass sie uns während der Fahrt noch aus dem Wagen springt, die holde Maid, weil sie unsere Gesellschaft nicht mag!“ Verspottend lachte er.
Rudolfs Hand wanderte wie selbstverständlich über den Unterleib des Mädchens in meine Richtung. In langsam kreisenden Bewegungen legte sie sich energisch auf meinen Oberschenkeln nieder. Die leisen Seufzer die er ausstieß, während er mich streichelte, waren für alle deutlich zu hören.
    „Dreh jetzt nicht durch, Alter!“, sagte Alex.
    „Könnten Sie bitte Ihre Hand von meinem Oberschenkel nehmen? Ich mag das nicht!“ Ich litt unter Schnappatmung. Versuchte sie jedoch vor den anderen zu verbergen.
    „Ich heiße Rudolf. Kannst mich ruhig duzen.“
    „Rudolf, lass das bitte!“, sagte ich.
    „Nö, ich denke gar nicht dran. Ich mache was ich will und lasse mir von niemandem was vorschreiben. Von solchen Flittchen wie dir schon gar nicht, merk dir das. Außerdem steht ihr Fotzen doch auf diese Art von Anmache.“
    „Rudolf! Du machst den Mädels Angst.“
Alex drehte sich erneut zu uns. Mein Bauchgefühl signalisierte, dass selbst wenn er sich auf meine Seite schlüge, er nicht zu meinen Freunden gehörte.
Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als auszusteigen. Rudolfs Hand drängte sich energischer in meinen Schritt.
So gut es ging, kniff ich die Schenkel zusammen, doch er schob sie auseinander. Sein Zeigefinger arbeitete sich an den höchsten Punkt meines Schamhügels. Sein Lachen war abartig und zeugte von schlechtem Elternhaus.
    „Das nützt dir nichts. Ich weiß, du willst es auch!“, frotzelte er, während ich angestrengt die Knie zusammenpresste.
    „Können wir bitte anhalten!“, flehte ich.
    „Hey Fotze, wie alt bist du?“ Rudolf ließ nicht locker. Seine Hand wanderte von meinen Schenkeln hoch zur Brust.  
    „Vor wenigen Tagen bin ich fünfzehn geworden.“
Die Tränen standen in meinen Augen.
    „Oh, Happy Birthday, Schlampe!“
    „Danke!“, sagte ich traurig.
Innerlich bereitete ich mich auf den Überlebenskampf der miesesten Art vor. Wir entfernten uns immer weiter von der Zivilisation und von meinem Heimatort. Links und rechts neben der Straße, nichts als Wälder, Wiesen und Felder zu sehen. Der Raps war noch nicht gemäht worden. Das einzige Farbspiel und Lichtbringer der tristen Dunkelheit, in der ich tausend Ängste ausstand.
Die näherkommende Dunkelheit legte sich wie ein schwarzer Schatten über die Asphaltstraße. Nur noch wenige Autos begegneten uns auf der verwaisten Landstraße. Mein Blick wanderte zum Türgriff und von dort zum Tachometer. Wir fuhren schneller als hundert. Sollte ich aus dem Wagen springen, bezahlte ich die Aktion mit meinem Leben.
Zwei von Rudolfs Fingern kniffen in meine Brustwarzen. Stocksteif hockte ich auf dem Sitz. Ich ließ es über mich geschehen, während er dreckig lachte. Er lachte mich aus und ich wagte es nicht, mich zu bewegen, während der Typ nervös hin und her rutschte.
    „Was dein Freund wohl dazu sagt, wenn ich dich gleich ficke?“ Es klang kaltblütig und berechnend. Ich wollte nicht ficken. Mit niemandem hier aus dem Auto wollte ich intim werden.  
    „Ich habe keinen Freund!“, antwortete ich.
    „Aber, du hast schon mal gevögelt oder?“
Ich schüttelte den Kopf. Nein, das hatte ich nicht. Mein Vater hatte mich vergewaltigt, aber freiwillig mit jemanden geschlafen, das hatte ich noch nicht.
    „Wie jetzt? Alter, halt an! Los, stopp die Karre. Hier auf der Rückbank sitzt eine waschechte Jungfrau! Ich werde nicht mehr, Jungs! Ich kriege allein bei dem Gedanken einen Steifen, eine keusche Fotze zu vögeln und dann sitzt sie tatsächlich neben mir. Ich muss die Gunst der Stunde nutzen, bevor er wieder erschlafft, der Gute.“ Rudolf brüllte alle diese schrecklichen Worte so laut, dass ich mir am liebsten die Ohren zugehalten hätte.
    „Dort drüben, seht Ihr das? Da fahren wir jetzt rein. In den Waldweg! Ich muss meinen Quark im Sack loswerden.“
    Ben, der sich noch nicht zu Wort gemeldet hatte, drosselte das Tempo des Kombis. Mit sicherer Hand lenkte er den Wagen über den holprigen Weg der Tannenschonung. Unter dem Wagen krachte und ächzte es. Holz splitterte, scharfkantige Äste ratschten entlang des Unterbodens, zerkratzten vermutlich den Lack. Es hörte sich beängstigend und nach einem größeren Schaden an.  
    Zum Fremdschämen und traurig zugleich, einen teuren Gebrauchsgegenstand derart hinzurichten und unliebsam mit ihm umzugehen, dass man glaubte, nur noch wenige Meter- und er sei hinüber.
    Ich dachte an meinen Vater.
Ein Tobsuchtsanfall würde ihn überkommen.
Sein heißgeliebtes Auto. Die Bonzenkarre mit dem Stern vorne auf der Motorhaube, die er inniger liebte als Mama, falls er sie überhaupt jemals geliebt hatte.
Niemals würde er mit seinem Benz durch solch unwegsames Gelände fahren, wie diese Idioten es taten.
    Mit der Situation, während sich der Wagen, der weder über Allrad noch über sonstige Funktionen verfügte, die Ackerlandschaft zu bewältigen, durch das Unterholz kämpfte, fühlte ich mich überfordert und hundselend.
Ein Gefühl der Angst überkam mich.
    Hier draußen im Wald sah man die Hand vor Augen nicht. Ich könnte weglaufen, aber wohin?
    „Eine waschechte Jungfrau ist uns ins Netz gegangen. Das muss mein Glückstag sein heute, Jungs!“
Rudolf ließ die Finger von mir weil er sich wieder mit dem stummen Mädchen beschäftigte. Unliebsam verpasste er ihr einen Schubser, doch auch der brachte sie nicht zum Reden.
 „Hey Uschi, nicht schlafen. Du sollst auch noch was vom Tag haben.“ Sie hörte auf zu Zittern, aber die rotgeschminkten Lippen, hatte sie blutig gebissen. Verzweifelt blickte sie mich an. Erst jetzt, bei genauerem Hinsehen sah ich, dass das Make Up in ihrem Gesicht zerlaufen war.
Ihr Anblick war fürchterlich. Wahrscheinlich schlimmer als meiner. Sie sah aus, als hätte sie zwei Nächte lang Crack genommen und zu viel Wodka getrunken.
Hätte ich doch nur die Möglichkeit, sie an die Hand zu nehmen und mit ihr wegzulaufen.
    „Wie kann man fünfzehn Jahre alt sein und noch nie mit einem Jungen geschlafen haben? Wohnst du eigentlich mit deinen Eltern im Kloster?“ Rudolf lachte missbilligend.
    „Es gibt eben Mädchen, die noch old School erzogen worden sind. Keinen Sex vor der Ehe!“ Ben grinste mit erhobenem Zeigefinger.
Mittlerweile hatte er den Wagen zum Stillstand gebracht. Ein wenig brutal den Gang rausgekuppelt und mit Gewalt die Handbremse angezogen. Wütend zog er den Zündschlüssel ab.
    „So, ich gehe Pissen. Was Ihr macht, ist mir egal. In einer halben Stunde ist Abfahrt hier, Leute. Ich will pünktlich zu Hause sein. Mein Alter braucht den Wagen. Er fährt noch zum Rendezvous und ich will zu Hause in Ruhe wichsen.“
    „Ach, laber nicht. Auf den Strich fährt er und rammelt am Straßenrand die Nutten, die sonst keiner anfassen will. Das nennt sich Rendezvous. Gib es doch zu, du Held vom Erdbeerfeld. Die Krätze bringt er mit nachhause, dein Vadder und sonst gar nichts.“ Alles lachte. 
    „Und selbst wenn. Er kann es sich leisten.“ Ben lockerte den Gürtel seiner Jeans.
    „Biste etwa neidisch auf meinen Vater, weil dein Alter es zu nichts bringt?“ Energisch öffnete er die Autotür.   
    „Auf deinen Vogelscheuchen rammelnden Alten soll ich neidisch sein? Ganz sicherlich nicht!“
    „Ach, haltet doch eure dreckigen Mäuler.“
Ben stieg aus dem Wagen. Den Schlüssel ließ er galant in der Hosentasche verschwinden. In jene Hose, die ihm jetzt von den Hüften unterhalb der Pobacken rutschte.
Ich sah seine Unterhose aufblitzen.
Ben schien mir hier der einzig Vernünftige zu sein. Ich wollte ihn höflichst bitten, nach dem Pinkeln schleunigst wiederzukommen und den Motor zu starten, um mich nachhause zu bringen, weil die Geschichte hier für uns alle nicht gut ausginge, sofern etwas Schreckliches passieren sollte. Schneller als mir lieb war, verschwand Bens Silhouette in der Dunkelheit. Irgendwo weit draußen schrie ein Tier. Ängstlich zuckten das Mädchen mit der aufgesprungenen, blutigen Lippe und ich fast zeitgleich, zusammen.
    „Zieh das Oberteil aus, Schlampe!“ Rudolfs Augen blitzten gefährlich.
    „Ich habe einen Namen“, sagte ich mit ruhiger Stimme.
Noch immer versuchte ich Coolness zu zeigen.
Ich hatte keine Chance. Ich saß in der Falle und müsste tun, was er verlangte. Niemand würde herkommen und mir helfen. Mein Vater saß daheim und fluchte, weil ich wieder einmal meinen Hintern nicht pünktlich nachhause bewegt hatte und Mama war es ohnehin egal, ob ich später oder gar nicht mehr nachhause kommen würde. Sie lebte längst ihr eigenes Leben. Was war meins denn eigentlich noch wert? Nichts! Dennoch, mein Stolz wollte es nicht erlauben, mich den Jungs mit nacktem Oberkörper zu präsentieren.
Nicht nur, weil ich mich meiner kleinen Brüste schämte, sondern auch der vielen Narben wegen, die eine traurige Geschichte über mich erzählten.
    „Brauchst du eine Sondereinladung, Schätzchen? Ausziehen habe ich gesagt!“
Im Wageninneren schaltete sich automatisch das Licht aus.
Nur wenige Sekunden, nachdem Ben verschwunden war saßen wir im Dunkeln. Rudolf lehnte sich ächzend über die Mittelkonsole. Einen Augenblick lang dachte ich nach meinem Handy in der Handtasche greifen zu wollen, um den Notruf abzusenden.  
    „Verdammte Scheiße“, fluchte er. Seine Finger suchten nervös den Lichtschalter unter dem Innenspiegel.
    „Nimm solange die Handytaschenlampe!“ Alex richtete den Lichtstrahl seines Smartphones auf mich. Absichtlich blendete er mein Gesicht. Genervt stellte er fest:
    „Sie heult ja schon, bevor es losgeht!“ Schluchzend wischte ich die Tränen aus meinem Gesicht. Ich hatte sie verbergen wollen und jetzt hatte er sie doch gesehen.
Rudolf fand den Schalter unter dem Spiegel. Im Wagen wurde es wieder hell.
    „Los, wir wollen deine Titten sehen. Und noch mehr von dir. Wir haben nicht ewig Zeit. Wenn Ben zurückkommt, wollen wir fertig sein mit der Vorstellung hier. Also, zieh dich obenrum aus und tanz mal eine Runde für uns.“
    „Im Dunkeln?“, winselte ich.
Die Augen des Mannes blickten mich an wie die eines irre gewordenen, auf Crack sitzenden Junkies, der dringend den nächsten Schuss brauchte. Er zündete eine Zigarette an und inhalierte gierig den giftigen Rauch.
Mein Magen krampfte. Notgedrungen zog ich das nasse Shirt aus. Legte es in den Sitz neben meine Tasche.
Drunter trug ich ein Sportbustier.
Die Kälte legte sich unbarmherzig über meinen feuchten Oberkörper. Ich fror und mir war schlecht. Morgen, falls ich den nächsten Tag noch erleben sollte, fing ich mir höchstwahrscheinlich eine Lungenentzündung ein.
Rudolf warf sich über mich. Schwer atmend, öffnete er die Autotür.
    „Du müsstest jetzt mal aussteigen, Püppi! Damit wir dich draußen in voller Pracht bewundern können!“ Mit einem unmissverständlichen Kopfnicken forderte er mich auf, den Wagen zu verlassen. Mit dem Licht der Taschenlampe dirigierte er mich.
    „Hinten im Kofferraum ist der große Strahler. Nimm ihn gefälligst raus!“ Rudolf verpasste dem wortlosen Mädchen mit dem Ellenbogen einen empfindsamen Schlag in die Rippen.
    „Los, raus mit euch! Alle beide, aussteigen! Sofort!“
    „Und du, Miststück, zieh endlich den Fetzen Kleidung aus!“ Ich tat, was er sagte. Mit nacktem Oberkörper stand ich in der dunklen Tannenschonung.
Leichter Regen fiel vom Himmel. Die Äste der Bäume bewegten sich im seichten Nordwind. In einer Wolkenlücke stand der Mond. Mein schöner und stiller Zeuge. Wo blieb Ben? Sein Vater wollte doch zum Bordell. Er müsste den Wagen nachhause bringen. Da blieb nicht viel Zeit.
    „Leuchte mal!“ Das Mädchen hatte den batteriebetriebenen Strahler aus dem Kofferraum genommen. Den Lichtstrahl schwenkte sie in meine Richtung. Unsere Blicke trafen sich. Beschämt wich sie meinem aus.
    „Ja kannste ruhig angucken. Sie hat schönere Titten als du. Kleinere, aber schönere“, lästerte Rudolf. Er war in seinem Element. Ich kannte diesen Menschen nicht, aber er schien schlimmer und ekelhafter zu sein als mein Vater. Frischfleisch, das war alles wonach sie gierten, diese widerlichen Typen.
   
 „So kleine Titten. Ich glaube es nicht. Das lohnt sich ja gar nicht. Ich meine, was soll ich da meinen Spaß dran haben, solch winzige Tischtennisbälle anzufassen? Da gibt es ja nicht mal einen passenden Büstenhalter für solch mickrigen Möpse.“ Rudolf kam mir bedrohlich nahe.
Ich roch seinen schlechten Atem, der mich unweigerlich an meinen Vater erinnerte, wenn er getrunken hatte. Und auch die glasigen Augen triggerten mich.
    Weit aufgerissene Lider, in denen die dunklen Iriden ihren Glanz verloren hatten, gehörten zu den Männern, die Frauen als reine Lustobjekte für ihre triebgesteuerte, sexuelle Begierde vereinnahmten. Ohne ihnen jegliches Recht, sich gegen die Brutalitäten des Stärkeren, wehren zu können, einzuräumen.
    „Was ist das hier?“
Sein Blick wanderte über meine Narben.
Mein schmächtiger Körper war mit roten Striemen übersät.
    Sie verteilten sich über meinem Busen bis zum Bauchnabel hinunter und gelangten noch tiefer bis in den Genitalbereich. Die Blessuren waren der Grund, warum ich keinen Büstenhalter trug. Die Schmerzen waren unter den engen Körbchen nicht auszuhalten.
Vor wenigen Tagen erst, hatte mein Vater mich über den Stuhl gelegt und halb tot gedroschen.
    Die Erinnerung an den Vorfall, der sich wöchentlich wiederholte, schmerzte bitter.
Vor seinen Freunden zog er den Gürtel aus der Jeans.
Schon allein dieses sinnbildlich perverse Gebaren, sich seiner Macht und Brutalität bewusst zu sein und wieder einmal Grenzen überschreiten zu wollen, rollte er mit ruhiger Hand das Leder zusammen, während ich in meiner Not wimmerte und mich einnässte.
Abartige Lust am Sadismus sprang mir aus bösartigen Augen entgegen. Sich an meinen Schmerzen zu ergötzen, befreite ihn von inneren Dämonen.
Unter meinen Qualen legte er den Deckmantel nieder, unter dem er sich tagsüber versteckte, um vor Gott und der Welt, den Helden zu spielen.
    Vor den Leuten dort draußen den liebevollen, treusorgenden Ehemann mimen zu müssen, obwohl er in dessen Silhouette niemals schlüpfen wollte und sie ihn keineswegs kleidete, kostete ihn mehr als nur ein Lächeln.
Es ging um sein verficktes Ego, sobald er zuschlug.
In dem Augenblick, wenn mich die Lederpeitsche traf, war ich nicht mehr seine Tochter und ich war auch nicht sein kleines, liebes Mädchen oder Everybodys Darling, nein!
In dem Augenblick, sobald es über ihn kam, war ich niemand anderes, als eine dieser Frauen aus dem Journal, das er unter seiner Betthälfte versteckte, in dem halbnackte Weiber gefesselt, geknebelt und teils mit verbundenen Augen zu Füßen ihrer Peiniger lagen.
    Wie ein Wahnsinniger drosch er mit dem Gürtel auf meinen nackten Hintern, Busen, Rücken und Bauch ein.
Auf Kommando hatte ich mich auf dem Stuhl zu drehen, mich hinzusetzen und vor ihm niederzuknien.
Niemand von den Erwachsenen erhob Einwände, eine junge, wehrlose Frau bis auf das Blut zu peinigen und bis zur Bewusstlosigkeit hin, zu schlagen.
Im Gegenteil, das Schauspiel erfreute alle Beteiligten bester, erotisierender Gelüste.
Ihnen ging mächtig einer dabei ab, zuzusehen, wie mein Vater meinen zarten, unschuldigen Körper, mit dem Ledergürtel malträtierte und meine Seele hinrichtete. Die Brutalität meines Vaters hatte sich im Laufe der letzten Jahre immens gesteigert. Hemmungen kannte er keine mehr.
Rudolf wich vor mir zurück.
    „Was bist du?“, schrie er mich an.
    „Eine Sexsklavin? Ich meine, das, das ist doch nicht normal. In einem Film habe ich so etwas mal gesehen. Da haben sie eine Frau vergewaltigt. Aber nicht nur, sie haben sie ausgepeitscht. Los Schlampe, mach den Mund auf! Was ist mit dir? Was sind das für Narben?“
    „Das war mein Vater!“, sagte ich.
Es war längst nicht mehr die Angst in mir, die mich zittern ließ, sondern die Kälte aus meiner kranken Welt, die meinen geschundenen Körper umhüllte und die Wut, die ihn beben ließ.
    „Ach komm, erzähl uns hier keinen vom Pferd, du dummes Miststück. Du stehst auf Sadomaso. Du magst es, gequält zu werden. Das lese ich doch auf deiner Stirn. Ich kenne solche Schlampen wie dich. Herzlich Willkommen im Club.“
    „Nichts kennst du!“, sagte ich.
Ich zog einen Plaque Rotz aus meiner Lunge und diesen spuckte ich ihm vor die Füße.
Was sollte passieren? Wollte er mich vergewaltigen? Und wenn schon. Ich war es gewohnt, wie Dreck behandelt zu werden. Oder wollte er zu härteren Methoden greifen? Mich totschlagen? Die Mühe konnte er sich sparen. Ich war längst tot.
    „Bringen wir es endlich hinter uns! Los, worauf wartest du noch? Ihr habt mich doch nur eingesammelt, weil ich Frischfleisch bin, das verspeist werden will.“
Rudolf wich vor mir zurück.
    „Du bist eine Hexe. Auf den Scheiterhaufen gehörst du.“
    „Mir egal. Macht was Ihr wollt. Ihr seid doch eh alle gleich. Triebgesteuert und krank im Kopf.“ Die Wut in mir, sie kochte.
Rudolf blickte mich entgeistert an. Scheinbar hatte es ihm die Sprache verschlagen.  
    „Was ist mit dir? Haben sie dich mundtot gemacht? Geschlagen, vergewaltigt und zum Schweigen gebracht, so wie mich? Womit haben sie dir gedroht? Dass sie dich töten, wenn du jemandem ein Sterbenswörtchen sagst? Oder dass sie dir ein Ohr abschneiden? Dass sie deiner Mutter die Gebärmutter rausreißen, wenn du sie verrätst und ihre Namen nennst?“ Die Tränen stiegen mir in die Augen. Während ich aus der Haut fuhr, dachte ich an meinen Vater und an seine fiesen Erpressungen.
    „Halte endlich die Fresse, Drecksweib!“
Rudolf schäumte vor Wut. Ich hatte ihn erwischt. Seinen wunden Punkt getroffen. Er war nicht besser als mein Vater. Mit sich selbst unzufrieden, musste er sich an Schwächeren vergreifen. Dazu sadistisch triebgesteuert, eine gefährliche Mischung. In seinen Augen hatte ich das Elend in seinem Herzen gesehen.
    Jetzt fühlte er sich von mir in die Enge getrieben.
Er konnte nicht länger an sich halten. Da gab es ein noch abartigeres Gesicht hinter seiner scheinheiligen Fassade, als das, das er für mich aufgelegt hatte.
Angst einjagen wollte er mir. Dass ihm das nicht gelingen mochte, ließ seinen inneren Schweinehund noch viel lauter aufschreien. Bis er schließlich komplett die Kontrolle verlor und Anlauf nahm.
    Mit lautem Gebrüll aus üblen Schimpfwörtern, die ich noch nicht kannte, schubste er mich.
Ich taumelte, verlor den Halt und schlug rücklings zu Boden. Einen Augenblick lang wurde es dunkel.
Noch dunkler als der Abend, der ein tiefschwarzes Kleid angezogen hatte.
Rudolf warf sich auf mich.
Unter seinem Gewicht ächzte ich.
Nervös machte er sich an mir zu schaffen. Ich wehrte mich nicht. Kräftemäßig hatte ich verloren, noch bevor der Kampf beginnen sollte.
Schnaufend schaukelte er sich in einen hektischen, immer schneller werdenden Rhythmus.
    „Lass sie in Ruhe!“ Die Stimme gehörte zu Ben.
    „Kommt jetzt. Wir verschwinden hier!“ Er versuchte Rudolf von mir zu zerren.
    „Lass sie in Ruhe!“, brüllte er.
    „Rudolf, hör auf damit! Genug jetzt! Verdammt noch mal.“ Alex hatte sich dazu gesellt. Im Kreise standen die jungen Männer um das Geschehen.
Wie durch Watte vernahm ich die Stimmen meiner Peiniger. Am Boden liegend, hatte ich ihnen nichts mehr entgegenzusetzen.
    Rudolf zog die Hose hoch. Ich hörte es am Geräusch des Reißverschlusses.
Der Regen wurde kräftiger.
Das Rascheln der Tropfen in den Baumwipfeln beruhigte mich ein wenig. Die Schmerzen zwischen meinen Beinen kamen messerscharf aus dem Hinterhalt. Mir war als hätte jemand die Klinge des Messers in meine Scheide gerammt und sie mehrere Male hin und her gedreht. Ich schwankte zwischen Ohnmacht und Bewusstlosigkeit. Mein Körper wollte sich nicht entscheiden.
Ich war müde und mir war kalt.
So bitterkalt die Nacht.
Sie ließen mich tatsächlich liegen.
    Der Wagen setzte rückwärts. Mit durchdrehenden Reifen fuhr er davon.
Wie im Rausch erlebte ich die nächsten Stunden. Allein der Schmerzen, Kälte und Dunkelheit wegen, hatte ich meinem Schicksal nichts entgegenzusetzen. Ich gab mich ihm geschlagen. Irgendwer würde mich irgendwann finden.
Das Zeitgefühl hatte ich verloren.
Zwischendurch war es mir, als wäre ich ohnmächtig geworden.
    „Hey, aufstehen. Komm schon!“ Der Strahl der Taschenlampe traf mich brutal.
    „Ich bin es, Ben. Steh bitte auf. Ich bringe dich nachhause.“
Auf wackeligen Beinen krabbelte ich ins Auto. Erschöpft ließ ich mich auf den Beifahrersitz fallen.
    „Ich muss mich für meine Freunde entschuldigen. Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was in den Dreckskerl gefahren ist.“ Ben klang ehrlich. Aber was nützte es?
    „Danke, dass du zurückgekommen bist.“
    „Ich konnte das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.“
Im Radio spielten sie einen traurigen Song der gut zu meiner Stimmung passte. Ben drehte es leiser, während ich den Schalter auf Lautstärke zurückdrehte.
    „Magst du den Sänger?“, fragte er.
    „Ja!“, sagte ich.
    „Ich stehe nicht auf Schnulzen. Ich mag eher Techno. Wo wohnst du eigentlich. Also ich meine, wo hätten wir dich ursprünglich absetzen sollen?“
    „Rosenstraße 17!“
    „Hey, dort, wo die Reichen und Schönen wohnen?“
    „Ja, genau. Wobei ich weder reich noch schön bin.“
    „Doch, du bist schön.“ Ben schluckte hörbar.
    „Ich habe kleine Titten“, sagte ich bekümmert.
    „Na und? Ist doch nicht wichtig. Klein und handlich, besser als groß und labbrig.“ Wir lachten beide.
Die Fahrt war schneller zu Ende, als mir lieb war. Ich hätte noch einige Stunden lang mit Ben zusammen im Wagen durch die Nacht fahren und erzählen können. Er hatte eine angenehme Art die Dinge beim Namen zu nennen. Ein wohliger Schauer lief entlang meines Rückens.
Als er den Wagen vor dem Haus meines Vaters parkte, seufzte ich laut.
    „Das wird Ärger geben. Ich bin viel zu spät. Mein Vater hasst es, wenn ich unpünktlich bin.“
    „Dann komme ich mit rein und sage, dass ich schuld bin. Dass ich dich aufgehalten habe.“
    „Das ist nett von dir, aber das wird er gar nicht mögen.“
    „Sehr besitzergreifend, dein Vater, was?“
    „Schlimmer als das. Ich denke, er ist krank. Aber egal. Er tut mir leid. Seit meine Mutter gegangen ist, bekommt er sein Leben irgendwie nicht mehr auf die Reihe.“
    „Ich komme mit. Ich will nicht, dass dir heute noch mehr passiert. Ich fühle mich schuldig und möchte es wieder gut machen.“
Mein Vater hatte getrunken. Ich hatte nichts anderes erwartet, als er die Tür öffnete. Um das Schlimmste zu verhindern, hatte ich noch versucht, mit dem Schlüssel aufzuschließen und mich ungesehen über den Flur in mein Zimmer zu schleichen, doch er fing mich ab. Es war, als hätte er hinter dem Fenster gestanden und auf mich gewartet.
    „Wo warst du, Schlampe?“, schrie er mich an.
Ben stellte sich ihm in den Weg.
    „Ich bin schuld, dass Ihre Tochter heute später als gewohnt nachhause kommt. Ich habe sie eingeladen. Wir, wir haben Pizza gegessen und uns festgequatscht, beim Italiener.“
    „Und danach habt Ihr gevögelt, stimmt’s?“
    „Nein!“, sagte Ben. Er klang überzeugend glaubwürdig.
    „Du gehst jetzt auf dein Zimmer! Und du, verschwinde. Dich will ich hier nie wiedersehen!“ Mein Vater schubste Ben von der obersten Treppenstufe und versuchte die Tür zu schließen. Ben stellte jedoch seinen Fuß dazwischen.
    „Wenn Sie so erregt sind, dann möchte ich Samira jetzt nicht hier lassen.“
    „Du willst mir Vorschriften machen, wie ich mit meiner Tochter umzugehen habe?“
    „Keine Vorschriften, aber ich möchte Samira ungern ihrem Schicksal überlassen. Ich würde mir später bittere Vorwürfe machen.“
Mein Vater blickte mich mürrisch an.
    „Du hast es ihm erzählt?“ Seine Augen sprangen ihm bald aus den Augenhöhlen.  Ich schüttelte den Kopf.
    „Nein!“, sagte ich.
    „Lüg mich nicht an!“ Mein Vater holte aus und verpasste mir eine Ohrfeige. Die war so kräftig, dass ich mich beinahe um die eigene Achse drehte und den Halt verlor. Ich taumelte.
    „Es reicht!“ Ben verpasste meinem Vater einen kräftigen Schubs. Der hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben.
    „Komm!“, sagte er. Entschlossen nahm er mich an der Hand und schleifte mich zum Wagen.
    „Ich kann nicht mit dir mitkommen. Er wird mich umbringen.“
    „Das wird er so oder so. Ich lasse dich jedenfalls nicht mit einem betrunkenen Vollpfosten alleine.“


 

Ein neues Leben

Ben nannte eine kleine Wohnung im berüchtigten Wohnviertel am Rande der Stadt sein zu Hause. Er wohnte dort, wo sich der Abschaum der Gesellschaft tummelte, wie mein Vater jene Menschen nannte, die im Abseits standen.
    „Hier gibt es zwar keinen Luxus, aber wenigstens hast du deine Ruhe“, sagte er. Stolz zeigte er mir das Badezimmer.
    „Sogar mit Wanne. Diesen Komfort kann nicht jede Wohnung vorzeigen.“ Ben lachte.
Ich schmunzelte. Hatten wir doch daheim eine Sauna mit Whirlpool und Solarium.
    „Und hier, das ist mein Schlafzimmer.“ Stolz öffnete er die Tür, hinter der nichts als Chaos herrschte. Der Anblick haute mich beinahe aus den Socken.
    „Da staunst du, was?“ Ben lachte.
Schlimmer als auf einem türkischen Basar sah es in dem Zimmer aus. Nichts war aufgeräumt, die Unordnung herrschte vorrangig in jedem der drei Zimmer, aber in dem Augenblick als er mir das Schlafzimmer zeigte, war ich wirklich betroffen. Wie konnte man in solch einem Drecksloch schlafen? Doch, ich war zu müde, viel zu erschöpft, als dass ich meine Meinung kundgetan hätte. Außerdem wollte ich nicht verletzend sein.
In meiner Hilflosigkeit war mir das Durcheinander ehrlich gesagt auch egal.
    „Ich schlafe im Wohnzimmer. Keine Sorge. Ich fasse dich auch nicht an.“ Ben nahm eine Wolldecke und legte sie im Wohnzimmer auf die Couch.
In dieser Nacht war ich mehr als dankbar für ein warmes Bett. Mit den Nerven am Ende und körperlich schlimmer zurecht als ein zugerichtetes, menschliches Wrack, ließ ich mich in die Matratze fallen. Ich fiel in einen unruhigen Schlaf, nachdem Ben das Licht gedimmt hatte.
Am nächsten Morgen wurde ich gegen Mittag geweckt. Ich erschrack beim Blick auf die Uhr, weil ich so lange geschlafen hatte.
    „Ich muss los. Erledigungen und Verpflichtungen rufen nach mir. Wollte dir nur Bescheid geben, dass du dich nicht wunderst, wenn ich weg bin. Ich würde mich freuen, wenn du heute Nachmittag noch hier bist.“
    „Ich muss nachhause. Mein Vater wird fürchterlich toben“, sagte ich schlaftrunken.
    „Quatsch. Ruf ihn an und sag ihm, du bleibst und zwar solange, du willst. Er soll mal nachdenken über seine Schandtaten und eine Entschuldigung, die wäre wohl angebracht. Er kann von Glück reden, wenn du ihn nicht anzeigst. Immerhin hat er dich geschlagen. Und du hast einen Zeugen, der das gesehen hat.“
    Nachdem Ben die Wohnung verlassen hatte, lief ich aufgebracht und von den Ereignissen der letzten Stunden, mehr als beunruhigt, durch die beengten Räumlichkeiten. Ich schaute hier und dort. Die Neugierde siegte über meine Zurückhaltung. Ein dauerhaftes Leben hier, in den verdreckten vier Wänden, unvorstellbar! Alles war verkommen und das Mobiliar komplett abgelebt.
Die Sitzbank in der Küche hatte Ben sicherlich vom Sperrmüll organisiert.
Mit gekräuselter Nase begutachtete ich das Bett.
Ich wollte gar nicht wissen, mit wie vielen Wanzen, Milben und Flöhen ich die letzte Nacht verbracht hatte.
    Von den Wänden hingen Spinnweben herunter, auf der Toilette pellte sich der Schimmel von den Wänden. Die Kacheln in der Dusche und die Bodenfliesen, sie waren mehr schwarz als weiß. Ebenso das Innenleben der Toilettenschüssel, es glänzte nur so von Kotresten.
Ben hauste in einer Drecksbude sondergleichen.
Mir drehte sich der Magen um. Solch ein ekelhaftes Ambiente war ich nicht gewohnt und einen Saustall dergleichen hatte ich meinen Lebtag noch nicht gesehen.  Meine Mutter hätte mich mit der Axt erschlagen, wenn sie jemals mein Kinderzimmer in dem Zustand vorgefunden hätte.
    „Wenn es das nur wäre, dass er mich geschlagen hat!“, sagte ich nachdenklich. Egal wie ekelhaft diese Wohnung auch sein mochte, hier wäre ich jedenfalls vor den sexuellen Übergriffen meines Vaters sicher. Solange er nicht wusste, wo ich mich aufhielt, konnte er mir nichts anhaben.
Doch mein schlechtes Gewissen ließ mich nicht lange warten und schließlich zum Telefon greifen. Ich rief meinen Vater an. Und ich sagte ihm, dass ich nicht nachhause kommen werde. Und während er am anderen Ender der Leitung tobte, sagte ich mir, dass ich nichts Anderes erwartet hatte. Es musste mir egal sein. Jetzt hatte er keine Handhabe mehr über mich und das wäre sein Untergang. Dass zerriss ihn mehr, als dass ich ihm aus den Verletzungen heraus, die er mir zugefügt hatte, den Rücken kehrte. Ich hatte wirklich gehofft, er würde seine Taten reflektieren, doch nichts dergleichen geschah. Es hagelte Vorwürfe ohne Ende. Ich erwartete gewiss keine Entschuldigung von ihm, aber so etwas wie Einsicht und eine mögliche Bitte um Vergebung meinerseits, wäre schön gewesen.
    Es sollte nur vorrübergehen sein, dass ich bei Ben Unterschlupf fand. Ich würde zu meinem Vater zurückkehren, doch das wollte ich ihm nicht auf die Nase binden.
    „Ich mag Ben sehr, Papa. Bitte gib mir ein paar Tage Zeit. Ich komme bestimmt wieder. Sei mir nicht böse“, flehte ich ihn an. Ich fühlte mich nach dem Telefongespräch noch mieser als vorher. Warum musste ich ausgerechnet vor diesem Arschloch Männchen machen? Warum fraß ich ihm aus der Hand? Ließ mich behandeln wie den letzten Scheißdreck?
    War es die pure Angst in mir? Die Unterwürfigkeit? Hörigkeit? Ich brachte es nicht übers Herz, seins zu brechen. Ich war die liebe, wohlerzogene Tochter, die stets gehorchte, sich Regeln und Anweisungen unterwarf, weil sie es von Anfang an gelernt und beigebracht bekommen hatte. Ich war die Tochter, die sich demütigen, vergewaltigen und schlagen ließ. Ich war diejenige, die durch das Schlüsselloch passte, wenn es sein musste.
Ein Schatten meiner selbst. Ein Häufchen Elend.
Seufzend zog ich meine dreckigen Sachen aus und stieg unter die Dusche. Da saß tatsächlich die Sorge in meinem Nacken, etwas Unrechtes getan zu haben.
Absurd!
Mich meinem Vater zu widersetzen, war nicht rechtens, glaubte ich. Mich von ihm fertig machen zu lassen, ebenfalls nicht.
Für mich war es schwierig, abzuwägen, welchen Weg ich gehen sollte. Sollte ich Nägel mit Köpfen machen und ihn anzeigen? Mich gegen meinen eigenen Vater stellen und eine polizeiliche Aussage unterschreiben?
     Was wäre mit meiner Mutter? Sie würde aus allen Wolken fallen. Bisher hatte ich kein Wort über den Missbrauch verloren. Bestimmt würde sie mir nicht einmal glauben. Mit Bedacht wusch ich die Spuren zwischen meinen Schenkeln aus der nächtlichen Vergewaltigung fort. Beobachtete das Wasser, wie es sich sparsam durch den Abfluss schlängelte. Der Dreck des Erlebten ließ sich mit Seife abwaschen, die schmerzhafte Erinnerung und all die Narben blieben an mir haften wie schwarzes Pech.
    Ben freute sich riesig, dass ich nicht gegangen war. Während seiner Abwesenheit hatte ich versucht, Ordnung zu schaffen und die Wohnung aufzuräumen.
Die Spinnweben waren beseitigt, das Bett frisch bezogen. Die Schränke entstaubt und die Toilette von den Rückständen seiner Hinterlassenschaften beseitigt.
    „Hey, wie sieht es denn hier aus? Der Wahnsinn. Warst du das? Hast du einen Zauberstab dabei oder was geht ab?“ Ben staunte und dann nahm er mich in den Arm.
    „Danke!“, flüsterte er.
    „Ich bin es von daheim aus gewohnt, Ordnung zu halten.“ Fast klang es nach einer Entschuldigung, dass ich die Wohnung aufgeräumt hatte.
    „Und, hast du deinen Vater angerufen?“ Ben warf sich in die Couch. Lässig legte er die Füße auf den Tisch und nahm die Zigarette, die er hinter das Ohr gesteckt hatte.
    „Ja, ich habe mit ihm gesprochen.“
    „Und? Hast du ihm die Meinung gesagt?“
    „Ich habe es auf die nette Art und Weise versucht. Er hört mir gar nicht zu. Alles was er will ist, dass ich nachhause kommen soll, damit er mich weiterhin schikanieren kann.“
    „Das wirst du gefälligst unterlassen, hörst du? Du kannst hierbleiben, solange du möchtest. Du bist mein Gast. Vor allem, welch ein nützlicher. Ich kenne mich in meiner eigenen Wohnung nicht mehr aus. Weißt du was? Das finde ich toll. Schaut wahnsinnig geil aus hier.“
    „Sag mal Ben, was arbeitest du?“
    „Gar nichts. Ich ernähre mich von Gelegenheitsjobs, Luft und Liebe.“
    „Hast du nichts gelernt?“
    „Nö! Wozu auch? Ich habe es vorgezogen, nach der Schule all das zu machen, was mir Spaß macht. Mich mit Freunden treffen, chillen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Habe mich um nichts und niemanden geschert. Purer Luxus.“
    „Wie bezahlst du die Wohnung?“
    „Von Gelegenheitsjobs, sagte ich doch.“
    „Was sind das für Jobs?“
Ben wich meinen Fragen aus.
Er wirkte nervös.
    „Können wir ein anderes Mal über solche Dinge reden? Hey, was wollen wir essen? Soll ich was vom Chinesen bestellen? Magst du asiatisch?“
  
    Zwei Tage später hatte ich das Bedürfnis, einige wichtige Sachen von daheim zu holen. Ben hielt das für keine gute Idee.
    „Ich brauche was zum Anziehen. Außerdem muss ich zur Schule. Ich kann nicht immer nur den Unterricht schwänzen. Ich möchte in zwei Jahren eine Ausbildung beginnen und später etwas Anständiges lernen.“
    „Dann komme ich mit zu deinem Vater. Ich lasse dich nicht alleine zu dem Schlägertyp gehen. Er wird dich zudem überreden, zu bleiben.“
    „Das wird er sicher tun. Wir können aber auch hinfahren, wenn er nicht da ist und ich hole meine Klamotten. Zwei Jeanshosen, einige Pullover und mein Tagebuch, das ist mir heilig.“
    „Du schreibst Tagebuch?“
    „Ja, seit ich neun Jahre alt bin.“
    „Oh, und steht was Spannendes drin?“
    „Eher viel Trauriges.“
    „Darf ich das lesen?“
    „Wenn du mir sagst, was du arbeitest!“ Ich grinste.
Ben lachte. „Das muss ich mir noch überlegen. Aber wir können deine Sachen jederzeit holen. Sag einfach Bescheid, dann fahre ich dich.“
    Den passenden Augenblick hatte ich erwischt. Mein Vater war nicht zu Hause, als ich meinen Kleiderschrank plünderte und das Nötigste zusammenpackte.
In meinem Zimmer hatte er alles so gelassen, wie ich es verlassen habe. Es war nichts durchwühlt, nichts ausgekundschaftet worden.
    Mein Tagebuch lag wie gehabt in der obersten Schublade meines Sekretärs.
Elviras Erinnerungen der leeren Wodkaflaschen und ihr Fixbesteck, befanden sich noch immer unter meinem Bett. Ich war mir sicher, ich würde nie wieder herkommen.
Den Ort meiner Kindheit, auch wenn er mit schönen Erlebnissen behaftet war, erneut aufsuchen und mich in meinem Zimmer wie das kleine Mädchen fühlen wollen, das mit ihren Puppen spielte und den Papa liebhatte.
    „Ja Papa, ich gehe zur Schule. Ja, auch regelmäßig. Ben ist nett zu mir. Nein Papa, ich brauche kein Geld. Nein, Mama weiß nichts davon, dass ich einen Freund habe. Und ja, ich werde am Wochenende zu ihr fahren. Ja, ich werde ihr von Ben erzählen, versprochen.“
Mein Vater wollte bis ins kleinste Detail alles über mein neues, in seinen Augen, vorübergehendes Leben wissen. Täglich musste ich mich bei ihm melden und Bericht ablegen. Dass er mich nicht mehr kontrollieren konnte, machte ihn fertig, das merkte man ihm an.
Mal war er freundlich, mal herablassend und mal fuhr er komplett aus der Haut.
    „Ich will, dass du sofort nachhause kommst!“, brüllte er.
    „Wenn du mich anschreist, komme ich gar nicht mehr, Papa!“, sagte ich. Stets antwortete ich in ruhigem Ton. Es tat gut, meine Meinung zu sagen. Mir nichts mehr gefallen zu lassen, wirkte wie eine Befreiung und Sprengung meiner Ketten.
    „Ich reiße deinem Ben die Eier aus dem Sack, wenn er dir was antut.“
    „Ben behandelt mich besser, als du mich jemals behandeln würdest und behandelt hast, Papa.“
Das Leben an der Seite von Ben genoss ich in vollen Zügen. Endlich war ich frei. Frei in meiner Meinung, frei in der Gestaltung meines Tages, frei in meinem Denken und frei in meinem Handeln.
Ben war tagsüber unterwegs. Geschäfte erledigen, sagte er. Was er genau arbeitete, ließ sich nur anhand von gewissen Gewohnheiten und eigenartigen Vorkommnissen erraten. So fand ich im Schrank neben dem Fernseher im untersten Fach gleich mehrere kleine Tütchen mit weißem, pulverartigen Inhalt.
Ich erinnerte mich an Elvira. Auch sie hatte dieses Zeugs zu sich genommen. Kokain. Allerdings hatte sie dieses Zeugs niemals in solch großen Mengen mit sich geführt. Mindestens zwanzig von den Tütchen fand ich in der Schublade.
Am Abend stellte ich Ben zur Rede.
    „Ich glaube, ich weiß, was du arbeitest.“
    „Ach ja? Was denn?“
    „Du dealst. Mit Drogen.“
    „Schlaues Mädchen.“
    „Du leugnest es nicht einmal?“
    „Nein. Warum sollte ich?“
    „Das ist kein Job, auf den man stolz sein müsste.“
    „Gewiss nicht, aber einer, mit dem man eine Menge Geld verdient.“
    „Wofür gibst du die Kohle aus? Ich meine, deine Wohnungseinrichtung ist vom Sperrmüll, das Auto gehört deinem Vater. Ich verstehe nicht, wenn ich ehrlich bin, was du mit dem Geld machst… Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, was ich sagen soll.“
    „Musst nichts sagen. Fühl dich einfach wie zu Hause und den Rest, den überlässt du mir.“
Ben klang plötzlich rechthaberisch und nach derselben Wortwahl und Ausdrucksweise wie mein Vater.
    „Ich denke, ich sollte zurückgehen, Ben. Das hier ist nicht der richtige Ort für mich. Zumindest nicht dauerhaft. Ich möchte keine Drogen zu mir nehmen und mit dem Zeugs will ich auch nichts zu tun haben.“
    „Das musst du auch gar nicht.“
    „Hey, ich wohne hier. Stelle dir mal vor, du bist nicht da und es gibt eine Hausdurchsuchung.“
    „Warum sollte es eine Hausdurchsuchung geben?“
    „Weil deine Kunden dich anscheißen, die Polizei auf deine Spur gekommen ist oder was weiß ich. Die Welt ist schlecht und die Menschen in ihr sind noch schlechter. Ich rede aus Erfahrung.“
    „Du musst noch viel lernen, Mädchen.“ Ben seufzte. Wie immer legte er die Füße auf den Tisch und schaltete den Fernseher ein während er eine rauchte.
    „Von dem Geld das ich verdiene, könnten wir auf die Malediven fliegen. Wir müssten nie wieder zurückkommen und könnten für immer und ewig chillen.“
Zwei Tage später rief mein Vater an. Er wolle Ben und mich einladen. Zu sich nachhause zum Essen. Er klang freundlich. Zu freundlich. Da war was faul.
    „Die Einladung nehmen wir natürlich an“, sagte Ben.
    „Mir ist unwohl dabei. Wenn ich mich verplappere, was dann?“
    „Wieso verplappern?“
    „Na wenn ich ihm die Wahrheit über dich erzähle. Er holt seine Wumme aus dem Schlafzimmer und jagt dir eine Kugel in den Schädel und das war es dann. Er will nur das Beste für mich und ganz sicherlich keinen Drogendealer, der in einer verschimmelten Wohnung haust und mich früher oder später zum Konsum animiert.“
    „Rede keinen Quatsch!“ Ben lache abfällig.
Wir nahmen die Einladung meines Vaters an. Ich glaubte, wenn ich gute Miene zum bösen Spiel machte, mit meinem Gewissen besser klarzukommen.
Mein Vater hatte für uns gekocht. Das war das erste Mal, dass er sich bemühte, mein Herz zu gewinnen. Er gab sich größte Mühe, auch Ben gegenüber freundlich zu sein. Vielleicht plagte ihn das schlechte Gewissen?
    Rinderbraten mit Knödel und Rotkohl landeten auf unseren Tellern.
    „Sieht lecker aus“, sagte Ben.
    „Das ist das erste Mal, dass du für mich kochst, Papa.“
    „Ja und ich hoffe, nicht das letzte Mal. Weißt du, in der Vergangenheit habe ich einiges falsch gemacht. Aber an jedem neuen Tag schenkt mir der liebe Gott die Chance, es besser zu machen.“ Papas Worte klangen zu schön um wahr zu sein. Ich traute dem Braten nicht.
Nach dem Essen kam die Dose Bier auf den Tisch. Nach der dritten kippte die Stimmung. Fiel steil in den Keller.
    „Was macht er denn beruflich, der Herr Ben?“
    „Das geht dich nichts an, Papa.“
    „Und ob mich das was angeht. Du bist meine Tochter. Irgendwann wird er dich schwängern, der Bastard. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich das möchte. Zumindest nicht, bevor ich nicht weiß, was für einen Background er als mein zukünftiger Schwiegersohn mitbringt.“
    „Wenn es so weit sein sollte, werde ich standesgemäß um die Hand Ihrer Tochter anhalten!“, sagte Ben. Er blieb sachlich, während es in mir brodelte. Ich spürte, mein Vater würde jeden Augenblick in die Luft gehen. Spätestens, nachdem die vierte Dose auf den Tisch gestellt wurde.
    „Musst du immer so viel trinken, Papa?“
    „Ich kann doch wohl mal ein Bierchen trinken. Wer will mir das verbieten? Du etwa? Was erlaubst du dir?“
    „Ich möchte nicht, dass wir wieder streiten, Papa.“
    „Dann schick diesen Bastard aus deinem Leben und komm zu mir zurück. Dann streiten wir nicht mehr.“
Mir lag so vieles auf der Zunge, was ich ihm in diesem Moment hätte sagen und antworten wollen. Doch ich durfte die alten Wunden und Narben nicht wieder aufreißen.
    „Ich denke, wir gehen jetzt besser!“ Ben erhob sich und verabschiedete sich respektvoll mit angedachtem Handschlag. Mein Vater verweigerte ihm diesen.
    „Mit dem Loser brauchst du mir nicht mehr um die Ecke kommen, Samira. Ich habe recherchiert. Ich weiß genau, was dein feiner Herr Ben so treibt, während du auf Wolke Sieben schwebst.“
    „Papa, wir gehen jetzt. Ich melde mich!“
Mein Vater warf seinen Teller gegen die Wand. Er zerfiel in mehrere Scherben. Der übriggebliebene Knödel landete auf dem Fußboden. Ich zuckte zusammen. Nichts hatte sich geändert, gar nichts. Ich war froh, die Entscheidung getroffen zu haben, vorübergehend bei Ben zu wohnen. Es war die richtige gewesen. Mein Vater würde sich nie ändern.
    „Ich rufe dich an, Papa.“
    „Mach keine Versprechungen, die du nicht halten kannst, Töchterlein!“, brüllte er. Mein Teller landete ebenfalls an der Wand. Als er nach dem von Ben griff und zum Wurf ausholte, verließen wir das Haus. 
Mit Tränen in den Augen kauerte ich auf dem Beifahrersitz.
    „Ich schäme mich für meinen Vater“, wisperte ich.
    „Das musst du nicht. Er hat Probleme und die Aggressionen aus ihnen versucht er mit Bier zu kompensieren.“

Am Wochenende fuhr ich mit der Bahn zu meiner Mutter.
    „Du hast einen Freund?“, fragte sie interessiert.
    „Hat Papa dir von ihm erzählt?“
    „Ja, das hat er.“
    „Ich hasse mein Leben!“, sagte ich.
    „Ist Ben so schlimm?“
    „Nein, Papa ist so schlimm!“
    „Warum? Du wolltest damals unbedingt bei ihm bleiben.“
    „Das war die falsche Entscheidung, Mama.“
    „Du kannst jederzeit hier bei mir wohnen.“
    „Nein, danke. Dafür ist es jetzt zu spät.“
    „Und sonst? In der Schule? Alles gut?“
    „Ja Mama.“
    „Ich würde deinen Ben gerne mal kennenlernen.“
    „Das machen wir ein anderes Mal.“
Wie gern hätte ich mich an ihre Brust geworfen und die Wahrheit erzählt. Nach dem Reinfall mit Papa verzichtete ich jedoch besser auf weitere Besuche und Kennenlernaktionen.


 

Das Böse in ihm

Die Tage zogen ins Land. Ben machte längst kein Geheimnis mehr daraus, dass er mit Drogen dealte.
Hatte er anfangs unserer Beziehung seine Dämonen in Schach gehalten, ließ er ihnen mittlerweile freien Lauf.
    „Probiere mal“, forderte er mich auf, es ihm gleichzutun und Kokain zu sniefen. Eine Tüte Schnee landete provokant auf dem Wohnzimmertisch. Die Alufolie und der Strohhalm lagen bereit. Für den Fall der Fälle der auffällige Geldschein, den Ben zusammenrollte.
    „Durch den Geldschein gesnieft, schmeckt das Zeug um Längen besser!“, grinste er.
    Es wäre mein erstes Mal.
Ich dachte an Elvira.
Das Dreckszeug hatte sie fertiggemacht.
Vor Ben wollte ich nicht kneifen. Probieren könnte ich es. Vorsichtig zog ich mit dem Koks eine dünne Linie und zog das Zeug durch den Strohhalm in meine Nasenöffnung.
    „Man merkt ja gar nichts“, sagte ich enttäuscht.
    „Musst ein bisschen warten. Die Wirkung kommt verzögert.“ Ben nickte zufrieden.
Mir war unwohl, doch plötzlich fühlte ich mich um einiges leichter.
    „Willkommen im Club. Du wirst es lieben. Es befreit dich von allen Sorgen.“
    „Als ob du Sorgen hättest!“, sagte ich.
    „Nee, weil ich Junkie bin, habe ich ja eben keine.“ Er lachte gellend.
Und dann setzte das trügerische Glücksgefühl ein.
Wie verhext, hatte ich unerwartet das Bedürfnis, Ben Komplimente zu machen. Hatte ich ihm eigentlich schon gesagt, dass ich ihn hübsch fand? Sagte man das überhaupt zu einem Jungen? Oder hieß es nicht eher, er sei gutaussehend? Attraktiv? Im Anfall eines Lachflashs sagte ich belustigt: „Eigentlich könnten wir auch miteinander schlafen. Ich meine, wir sind doch jetzt zusammen oder nicht?“
    „Das sind wir!“, sagte Ben. Wie selbstverständlich legte er seinen Arm um mich und küsste meine Stirn.
    „Und weißt du was? Ich bin froh, dass wir zusammengekommen sind. Ich habe dich nämlich wirklich gern.“
    „Dann lass uns ins Bett gehen!“ Ich erkannte mich selbst nicht wieder. Das war das erste Mal seit vielen Monaten, dass ich freiwillig an Sex dachte.
Das Kokain befreite mich von allen Hemmungen.
Hatte ich bisher Angst gehabt, mit einem Jungen intim zu werden, wurde, nachdem ich das Zeugs durch die Nase gezogen hatte, der Drang es auszuprobieren, immer größer. Obwohl ich ausschließlich die Erfahrungen gemacht hatte, dass Liebe im wahrsten Sinne des Wortes bitter schmerzte, so wollte ich die Gefühle die mich nahezu überrannten, jetzt sofort mit Ben ausleben. Ich wurde richtig geil.
Ben und ich landeten im Bett.
    „Und, wie hat es dir gefallen?“
Wohlig lag ich in seinen Armen, während er die Zigarette danach rauchte.
Ich fühlte mich gut. Ben war ein zärtlicher Liebhaber. Obwohl ich dachte zu verkrampfen, hatte mein Körper wie selbstverständlich die Kontrolle über meine Gefühlte übernommen. Zwischendurch empfand ich sogar größere Lustgefühle. Der erhoffte Orgasmus blieb aus, doch für den Anfang war ich stolz auf mich.
    „Gut gefallen hat es mir. Können wir gern wiederholen“, sagte ich zufrieden.
    „Du weißt, dass man außer mit Drogen auch mit Liebe ordentlich Kohle machen kann oder?“
    „Du meinst, mit Prostitution.“
    „Ja genau.“
    „Warum erzählst du mir das?“
    „Jetzt stell dir mal vor, angenommen, du müsstest nicht mehr zur Schule gehen und Multiplikation und solch einen langweiligen Kram nicht mehr lernen, weil du genügend Geld zur Verfügung hast. Wie findest du den Gedanken?“
    „Scheiße! Ich möchte mein Geld ehrenwert verdienen.“
    „Du hast nicht gut genug nachgedacht, Samira. Es ist nichts Unerenwehrtes dabei, mit Liebe Geld zu verdienen. Im Gegenteil. Du würdest viele Männer sehr glücklich machen und mich auch.“
    „Dich? Wenn du mich liebst, dann möchtest du doch, dass ich dir allein gehöre. Warum sagst du so etwas, dass es dich glücklich machen würde, wenn ich andere Männer beglücke?“
    „Ach, lassen wir das Thema. Reden wir ein anderes Mal darüber.“
Ben zog mich enger an sich. Sanft streichelte er meine Brüste und liebkoste sie mit der Zunge. Ich mochte das zärtliche Zungenspiel. Sogar sehr. Ich hätte nie gedacht, dass mir das einmal gefallen könnte, aber das tat es durchaus. Ich fühlte mich gut in seinen Armen. Wobei mir die Aussage, mit Liebe Geld verdienen zu wollen, keine Ruhe ließ und sauer aufstieß.


 

An den neuen Alltag gewöhnte ich mich schnell. Morgens besuchte ich die Schule, mittags hielt ich die Wohnung in Ordnung und abends, wenn Ben von seinen Erledigungen zurückkehrte, versuchte ich mich im Kochen. Wir lebten wie ein glückliches, junges Pärchen, das ab und zu mal einen Joint rauchte, Koks sniefte und sich liebte. Dass ich langsam aber sicher in die Abhängigkeit rutschte, merkte ich nicht.
    Ben schmeichelte mit lieben Worten. Er wusste genau, wie er mich um den Finger wickeln musste, damit ich mich ihm und seinen Forderungen unterwarf.
Seine sexuellen Gelüste nahmen Ausmaße an. Da gab es plötzlich nicht mehr die gewohnten Beine breit machen- Ficks- rein-raus-fertig- und vorab Petting, sowie danach das zärtliche Kuscheln, plötzlich redete er von abartigen Fantasien und von Sex mit mehreren Mädchen, flotten Dreiern und an ungewöhnlichen Orten. So, wie er die Dinge beim Namen nannte, kannte er sich aus in dem Geschäft. Dass es ein Geschäft war, dem er nachging, dem wurde ich immer mehr gewahr, als ich meine Nase in Dinge steckte, die mich nichts angingen.
    Mit einem miesen Bauchgefühl durchsuchte ich seine Kleidung. In den Jackentaschen fand ich Telefonnummern von Mädchen und dubiosen Männern. Ich rief sämtliche Nummern an. Versuchte mir ein Bild zu machen von dem Job den er erledigte, wenn ich die Schulbank drückte oder die Wohnung in Ordnung hielt.
Mir war, als wenn er junge Frauen an erwachsene Männer verkaufte. Als Nebenjob zu den Tätigkeiten des Dealers. Ich konnte mich irren, aber immer mehr Beweise sprachen dafür, dass ich es mit einem Amateurzuhälter oder ähnlichem Möchtegernarschloch zu tun hatte. Eines der Mädchen, dessen Nummer ich anrief, verhaspelte sich. Verfing sich in einem Gespräch mit mir.
    „Bist du die Freundin? Diese Sam?“, fragte sie.
    „Mein Name ist Samira“, sagte ich.
    „Ben hat von dir erzählt. Dass er dich auch noch rumkriegt und so. Dass du für ihn anschaffen gehst.“
    „Das hat er bestimmt nicht gesagt!“, antwortete ich entrüstet.
    „Glaub doch einfach, was du willst“, schnaufte sie.
    „Können wir uns treffen?“ Ich spielte meine Karten aus. Ich wollte es wissen, mit wem ich es zu tun hatte.
    „Wenn du mich bezahlst, dann können wir meinetwegen auch Ficken!“, lachte sie.
    „Hatte ich nicht vor.“
    „Was willst du von mir?“, fluchte sie.
    „Ich will nur wissen, mit wem ich es zu tun habe.“
    „Du meinst Ben? Er ist ein Arschloch wie alle anderen auch. Zunächst sagt er dir, was du hören willst. Er gaukelt dir Liebe vor und dann bist du seine Gefangene. Und wehe, du lehnst dich gegen ihn auf. Dann kannst du aber mal einen Ben erleben. Und weißt du was, dieser Rat, ganz schnell das Weite zu suchen, den hast du hier und heute völlig kostenfrei bekommen!“

Am Abend stellte ich Ben zur Rede.
    „Was? Du hast einfach die Nummer von einem Zettel angerufen, den du in meiner Jackentasche gefunden hast?“
    „Ja!“
    „Weißt du, wie viele Leute ich unterwegs treffe wenn ich… nun ja, wenn ich Drogen an den Mann bringe. Die Mädchen sind doch alle stoned. Die sind bekifft und auf Drogen. Dass die dummes Zeugs labern, das müsste dir doch einleuchten.“
    „Tut es aber nicht. Was ist, wenn sie die Wahrheit gesprochen hat?“
    „Dort ist die Tür, Samira. Wenn du meinst, dass ich ein Zuhälter bin, dann geh bitte.“ Ben klang bedrückt. Ich kaufte ihm die Schauspielerei ab und es tat mir gleich wieder leid, dass ich ihn zu Unrecht verdächtigt hatte.
    „Aber du hast selbst gesagt, dass sich mit Liebe auch Geld machen lässt. Da bin ich eben misstrauisch geworden.“
    „Das heißt noch lange nicht, dass ich Mädchen auf den Strich schicke. Geld lässt sich auch mit schönen, erotischen Fotos verdienen. Wo wir gerade bei dem Thema sind, ich würde gerne ein paar Aufnahmen von dir machen. Ein Freund von mir ist Fotograf. Hat schon mal jemand professionelle Fotos von dir gemacht?“
    „Nein. Nicht, dass ich wüsste.“
    „Lass es doch mal drauf ankommen. Vielleicht gefällt dir der Job. Verdienst als Modell jedenfalls mehr Geld, als in jedem anderen Gewerbe. Wir könnten es ausprobieren?“
    „Aber ich bin doch gar nicht hübsch. Wer will mich schon ansehen?“
    „Nächste Woche hast du eine Session. Ich bezahle dir die Fotos. Du wirst begeistert sein, glaube mir. Du bist das hübscheste Mädchen überhaupt, Samira. Dein Vater hat versucht, dir diese Schönheit zu nehmen, aber du nimmst jetzt all deine Kraft und lehnst dich gegen die Vergangenheit auf. Du wirst sehen, du bist wundervoll. Lass dich nicht kaputt machen von Menschen, die keinerlei Selbstwertgefühl haben. Die andere niedermachen müssen um selbst besser dazustehen. Dein Vater ist ein mieses Arschloch. Er will dich am Boden sehen. Zeige ihm, dass du Fliegen kannst.“
    Ben verstand mich. Seine Stimme tat so gut. Seine Worte gingen runter wie Öl. Tag um Tag, Stunde um Stunde. Er ließ mich schweben. Trug mich fort. An Orte, die ich nicht kannte. Er fing mich wieder auf. Nacht für Nacht und ich lernte wieder zu vertrauen.
Die Gedanken desertierten Die Vergangenheit verblasste. Alle Last fiel von mir ab.

    „Ja super! Und jetzt die Arme über den Kopf. Prima machst du das. Sehr gut. Brust rausstrecken, Po einziehen. Lächeln. Und die Kamera schoss im Dauerfeuer herrliche Bilder von mir. Egal welches ich anschaute, sie waren wirklich alle wunderschön. Auf ihnen fühlte ich mich wie eine Prinzessin. Ich konnte atmen, juchen, mich freuen und Glück empfinden.
    Niemals durfte ich so intensiv empfinden. Noch nie war ich bereit, alles zu tun. Tabus kannte ich kaum noch.
Ich liebte.
Ich wollte ihm gehören.
Jetzt und für immer.
    Ich kleidete mich in all den Dingen, die er mir kaufte. High Heels, Strumpfhosen, Strapse, Lack und Leder, Handschuhe. Ich trug blutroten und pechschwarzen Nagellack auf, weil es ihm gefiel.
Er hielt über den Fotografen meine weiblichen Reize fest und sie gefielen mir. Er gab mir das Gefühl, alles für ihn zu sein. Wirklich alles. Die erotischen Fotos landeten jedoch nicht nur unter meinen Augen. Er veröffentlichte sie im Netzwerk. Zunächst ohne mein Wissen. Die Fotos öffneten Schleusen. Für Zuhälter, Triebtäter, Abhängige und für Bens Geldgeber, die ihm horrende Summen dafür bezahlten, dass er weitere Fotos ranschaffte. Dass er mich gefügig und abhängig machte. Von sich und von den Drogen.
    Meinen Vater hatte ich seit Wochen nicht mehr angerufen. Das Pflichtbewusstsein hatte sich verabschiedet. In der Schule schwänzte ich. Ich stellte mich an die Straßenecke, aufreizend, posierend. Für ein bisschen Fummeln mit dem Opa hinter dem Hauseingang kassierte ich fünfzig Euro. Ich verwilderte und schließlich war ich eine von ihnen. Von den Mädchen, die beständig Geld brauchten um sich die Drogensucht finanzieren zu können. Ben hielt mich knapp. Mit allem. Mit Liebe, Geld und mit Drogen.
Aus den Fotos wurden Videos.
    Immer dann, wenn wir sie drehten, war er besonders zu mir. Flüsterte mir die Dinge ins Ohr, nach denen sich meine Seele sehnte. Die magischen drei Worte und ganz andere Sachen. Ich fühlte mich gut in seiner Obhut. Zum Dank warf er mir einen Leckerbissen vor die Füße. Ein Tütchen Schnee, einen Joint, etwas Liebe, einen Fick und eine Anerkennung für meine Arbeit. Doch sobald der Dreh vorbei war, ich ihm nutzlos wurde, wurde alles zwischen uns zur langweiligen Normalität. Er kommandierte mich herum. Schubste mich sogar und an einem Tag setzte es eine Ohrfeige. Ich hatte nach Drogen verlangt. Alles in mir brannte nach Erlösung. Ich brauchte den Kick. Ich schwitzte, meine Knochen schmerzten, ich war auf Entzug und da erst merkte ich, wie sehr ich in der Abhängigkeitsspirale gefangen war. Er hatte mich verlassen obwohl ich noch bei ihm wohnte. Die Liebe war fort, alles was blieb war die Abhängigkeit und der Wunsch, mit meiner toten Seele weiterhin Geld zu verdienen. Mich solange auszusaugen, bis ich den Löffel abgab oder freiwillig aus seinem Leben verschwand.
    Es kamen neue Mädchen. Sie nahmen meinen Platz ein und ich wurde der Wohnung verwiesen. Sollte unter der Parkbank einen Schlafplatz suchen. Bei Wind und Wetter wie ein Hund draußen leben, aber immer dann hereinkommen, wenn der Herr seine Streicheleinheiten, Videos und Bilder benötigte. Auf Abruf bereit sein für den Fick. Nicht mehr nur für ihn die Beine breitmachen, sondern auch für seine Freunde. Er ließ mich am ausgestreckten Arm verhungern. Die Drogen hielt er ganz weit von mir.
    „Willst du das Leckerchen haben? Ja? Verdiene es dir, Samira.“ Wenn ich spurte, bekam ich was mein Körper verlangte. Dope!
    Zurück nachhause konnte ich nicht.
Meinem Vater hätte ich nicht mehr unter die Augen treten können. Ich schämte mich. Abgrundtief. Ich sehnte mich nach den kalten Tagen zurück, in denen er mich vergewaltigt hatte. Es ging meist schnell vorüber. Dauerte gewiss nicht lange. Ich sehnte mich nach den gewohnten Abläufen zurück, in denen ich mich auskannte. Sehnte mich nach den Schmerzen, den Wunden und Narben, die mein Vater mir zugefügt hatte. Sie waren wesentlich erträglicher gewesen, weil ich ihn nicht liebte.
Ich liebte ihn lediglich so, wie eine Tochter den Vater liebt, zu lieben hat, aber lange nicht so sehr, wie ich Ben liebte. Nach Ben streckte sich alles in mir aus. Ich sehnte mich nach seinen Berührungen, nach seinen Versprechungen, nach seinem heißen Atem, wenn wir erschöpft in unseren Orgasmen lagen. Ich vermisste ihn unendlich, obwohl wir uns an jedem Tag so nahe waren. Diese grausige Kälte, die zwischen uns eingezogen war, die würde mich eines Tages umbringen. Er hatte mich lediglich benutzt. So, wie mein Vater es getan hatte, aber auf eine noch perversere Art und Weise.
    Ich fühlte mich dreckig, hundselend und am Ende meiner Kräfte angelangt.
Ich wollte nicht, dass mich die ganze Welt ansieht. Wollte nicht, dass ich zu denen gehörte, deren Fotos von Irren und Perversen angesehen wurden und als Wichsvorlagen dienten.
    Die Verzweiflung fraß mich innerlich auf.
    „Hallo Papa!“ Ein Flüstern nur brachte ich über meine Lippen. Endlich hatte ich es geschafft, ein Lebenszeichen von mir zu geben.
    „Samira! Menschenskind“, antwortete er.
    „Mir geht es gut“, log ich.
    „Ich und Mama, wir machen uns Sorgen. Wo bist du? Ich hole dich ab. Wohnst du noch immer bei diesem Bastard?“
    „Er ist kein Bastard, er ist mein Freund, Papa. In mir sträubte sich alles, Ben in Schutz zu nehmen. Jedoch hätte ich für ihn vor Gott und der Welt gelogen. Hätte ihn vor jedem, der sich uns in die Quere stellte, mit bloßen Fäusten verteidigt. Auf die Bibel geschworen und einen Mein Eid geleistet, wenn es verlangt worden wäre.
    „Ich wollte dir nur sagen, dass es mir gut geht, Papa.“
    „Komm nachhause Mädchen! Die Mama macht sich Sorgen. Du bist minderjährig. Ich könnte zur Polizei gehen und eine Vermisstenanzeige aufgeben. Du hast dich seit Wochen nicht gemeldet.“
    „Und warum tust du es dann nicht, Papa?“
    „Zur Polizei gehen?“
    „Ja!“
    „Weil ich mir nicht sicher bin, was du ihnen erzählst wenn sie vor der Tür deines Freundes stehen.“
    „Du meinst, dass ich ihnen erzähle, was du mit mir gemacht hast, Papa?“
    „Ja, das vielleicht auch. Ich weiß nicht mehr, was richtig und was falsch ist, Samira.“
    „Du musst dir keine Sorgen machen. Ich werde niemandem etwas sagen.“
    „Kann ich dich nicht wenigstens mal sehen? Kannst du vorbeikommen? Damit ich dich in den Arm nehmen darf? Dass ich mir ein Bild mache, ob es dir wirklich gut geht? Die Schule hat angerufen. Sie haben gesagt, dass du nicht mehr kommst. Was soll ich Ihnen sagen? Ich weiß nicht einmal, wo du dich aufhältst. Ich habe gelogen. Habe Ihnen gesagt, du seist krank. Weil ich Angst habe. Angst vor der Wahrheit. Verstehst du das? Kannst du mich einmal nur verstehen?“
    „Dir geht der Arsch auf Grundeis, Papa!“
    „Nenne es wie du willst. Egal was geschehen ist, ich bin und bleibe dein Vater. Ich kann auch deine Mutter nicht mehr ständig belügen, Samira. Sie will dich sehen. Genauso, wie ich dich sehen will.“
    „Du meinst, damit du deinen Schwanz in meine Scheide stecken kannst?“
    „Samira! Hör auf damit, verdammt!“
    „Die Wahrheit tut immer weh, Papa.“
    „Ich hätte nie gedacht, dass wir uns mit dir solch ein Miststück großziehen.“
    „Ich bin das Ergebnis eurer Erziehung, Papa.“
    „Wohl eher das Ergebnis deiner Mutter. Sie hat uns verlassen.“
    „Ihr beide seid für das Drama verantwortlich. Und missbraucht hast du mich, nicht Mama.“
    „Dich hat niemand missbraucht. Wir haben dir Liebe geschenkt ohne Ende. Zucker in den Arsch geblasen, aber deine Undankbarkeit, die stinkt zum Himmel.“
    „Du bist mir zu toxisch, Papa. Ich habe gar keine Lust mehr, dich zu sehen. Du legst dir die Dinge zurecht, wie du sie gerne haben möchtest. Und, suche nicht nach mir. Solltest du mich nicht in Ruhe lassen, so werde ich dich anzeigen.“
Ich hörte das laute Atmen meines Vaters. Mittlerweile erschreckte ich mich vor meiner Empathielosigkeit. Mich meinen Eltern gegenüber so herablassend und drohend zu benehmen, pfui Teufel! Da saßen mehr Hass und Abneigungen als sonst was in meinem Herzen, das an Liebe erinnerte.
Ich beendete das Gespräch.

Meine Periode blieb aus. Ich dachte, das käme von den Drogen oder vom Stress. Über Verhütung hatte ich mir bisher nie Gedanken gemacht. Ich liebte Ben, warum sollte ich verhüten? Die Pille würde mich nur unnötig dick machen. Ich wollte keines dieser hässlichen, dicken Mädchen sein, denen man frotzelnd hinterherrief:
    „Hey du fette Sau!“ Ich wollte schön sein für die Fotos und Videoaufnahmen.
    „Dein Aussehen ist dein Kapital“, hatte mich Ben ermahnt.
Der Schwangerschaftstest brachte Gewissheit.
Mit zittrigen Gliedmaßen und auf wackeligen Knien hatte ich ihn in der Apotheke besorgt. Ich wunderte mich über den unverschämten Preis, aber bei meinem Arzt hatte ich den Test nicht machen lassen wollen. Da hätte es gleich die ganze Stadt gewusst, dass ich schwanger war.
Das eindeutige Ergebnis riss mir einen Augenblick lang den Boden unter den Füßen fort.
Ich heulte und lachte zugleich. Dann fluchte ich. Die Frage, wie es passieren konnte, die brauchte ich mir nicht zu stellen. Ich war mit mir und meinem Körper schlampig umgegangen.
    Als ich Ben die Vaterschaft mitteilte, war sein Gesicht wutentzerrt, die Augen glasig. Ich hatte so etwas wie Freude erwartet, obwohl ich mir gleich die Antwort zurechtgelegt hatte, dass ich abtreiben könnte, wenn er es so wollte.
Ben hatte auf dem Küchenstuhl gesessen. Jetzt richtete er sich auf und stieß einen markerschütternden Schrei aus: „Hure!“ Wortlos verpasste er mir eine Ohrfeige und überschüttete mich mit Schimpftiraden, die Augen zusammengekniffen und Spucke speiend.
    „Es gibt nichts Verabscheuungswürdigeres als eine Hure! So steht es schon in der Bibel. Wenn ich daran denke, dass ich Dreck wie dich in meine Wohnung gelassen habe, dann weiß ich, dass ich zeitnahe zur Hölle fahren werde, weil ich für meine Sünden büßen muss. Jeder weiß jetzt, dass du eine Hure bist. Außerdem weiß jeder, wer ich bin. Mit wie vielen Männern hast du es neben mir getrieben? Mit wie vielen, Hure?“
Ich erkannte Ben nicht wieder. Was war bloß in ihn gefahren? Dass er nicht erfreut sein würde über die Schwangerschaft, damit hatte ich gerechnet. Dass er allerdings so sehr ausflippen würde, das brach über mich herein wie ein Donnerwetter, dessen Blitze mich erschlugen. In meiner Panik vergaß ich meine Lektion die mich mein Vater gelehrt hatte. Die Beschimpfungen schweigend hinzunehmen.
    „Mit den Männern, mit denen ich schlafen sollte, weil du dir das Geld eingesteckt hast.“
    „Und dann musstest du dich gleich von einem schwängern lassen?“
    „Das Kind wird von dir sein. Die Typen mit denen ich geschlafen habe, die wollten alle nur mit Kondom ficken.“
    „Ach, halte doch dein dämliches Maul, Fotze!“ Ben stieß mich plötzlich um, dass ich keine Chance hatte, mich in Sicherheit zu bringen. Mein Stuhl kippte nach hinten und bevor ich auf dem Boden aufschlug, prallte mein Kopf gegen den Putz der Wand, der mich mit weißem Staub überzog. Ben riss den Stuhl unter mir weg.
    „Jetzt weiß es jeder. Jeder weiß jetzt, dass du eine Hure bist! Jeder weiß, dass du dich von Männern anfassen lässt. Meine Freundin lässt sich ficken und anfassen. Eine dreckige Prostituierte habe ich in meine Wohnung geholt.“
    „Aber, du wolltest es doch so. Du wolltest doch mit dreckiger Liebe Geld verdienen. Mich trifft keine Schuld.“
    „Halte die Fresse! Ich muss nachdenken.“ Ben lief im Kreis während ich noch immer am Boden saß. Mein Kopf dröhnte und aus einer Verletzung an meiner Stirn quoll Blut.
    „Ich wollte dich retten. Ich habe versucht dieses Unheil zu verhindern. Wie stehe ich jetzt da? Ich kann dich gar nicht mehr vor die Tür lassen, Fotze.“
    „Ich kann meine Sachen packen und gehen, Ben.“
    „Das kommt gar nicht infrage. Damit jeder weiß, was hier gespielt wird?“
    „Was wird denn hier gespielt?“, fragte ich nicht wissend.
    „Es wird nicht lange dauern, dann weiß es die ganze Welt. Alle werden die Zeichen sehen. Du wirst dicker und dicker, fetter und fetter und ich muss mir Ausreden überlegen. Herr Gott, warum war ich nur so vernebelt und habe dir Einlass in mein Leben gewährt? Ich dachte, du schluckst die Pille, verdammt.“
    „Ich habe noch nie mit einem Jungen geschlafen. Das habe ich dir gesagt. Warum sollte ich also die Pille nehmen? Du warst der erste.“
    „Du hattest Sex mit deinem Vater.“
    „Hey, das war kein Sex. Du weißt genau, was er mit mir gemacht hat.“
    „Und du willst mir sagen, dass er dir die Pille nicht besorgt hat? Er ist das Risiko eingegangen, dass aus Inzucht ein Kind entsteht?“
    „Ich weiß nicht, was seine Beweggründe waren“, jammerte ich. Als ich mich auf meinen Ellenbogen hochzog, trat mir Ben in den Schritt. Ich jaulte auf vor Schmerzen.
    „Jeder wird es sehen, dieses Gift, dass sie in dich gespritzt haben. Vor allen Dingen ich, wenn du morgens in meinem Badezimmer in die Toilette kotzt. Ich werde sehen, dass du eine Prostituierte bist. Hast du es selbst nicht gewusst? So dumm kannst du nicht sein.“
    „Es tut mir leid“, stammelte ich während Ben seinen Absatz auf meinem Schritt niederdrückte.
    „Und wenn dieser Bastard aus deinem Bauch auf den Fußboden in meiner Wohnung fällt, wird er sich an dich klammern und nie wieder loslassen. Dann ist dein Leben zu Ende und meines auch. Jeder wird wissen, dass du die Männer ihre schmutzigen Teile in dich hast hineinstecken lassen. Bens Augen quollen ihm aus dem Kopf während seine Hasstiraden über mich regneten.
Seine Zähne knirschten zwischen den Worten. Vor mir stand eine fremde Person, er hatte nie weniger menschlich ausgesehen als in diesem Augenblick als ich ihm beichtete, schwanger zu sein.
    „Wer auch immer du sein wolltest, welche Träume du auch immer hattest, du hast sie alle für diesen Fick ruiniert. Von einem Mann, dessen Namen du wahrscheinlich nicht einmal weißt.“
    „Doch, er heißt Ben!“, wimmerte ich.
    „Hör auf zu Lügen!“ Seine Augen, die plötzlich eiskalt geworden waren, zuckten hin und her, dann trat er wieder zu, was mich aufschreien ließ.
    „Du hast Geld von einem Mann genommen, um dir mehr Drogen zu kaufen, mit denen du dich zudröhnen konntest. Drogen, die du von deinem Hurengeld gekauft hast. Du wirst sehen wie der kleine rosa Wurm in dir aufbläht und zerplatzt, sobald du das Dreckszeugs in deine Venen jagst. Du wirst es sehen. Du hast alles kaputt gemacht.“ Ununterbrochen hämmerte er seinen Absatz in meinen Schritt. Ich kniff die Knie zusammen.
    „Dafür ist es jetzt zu spät. Das hättest du tun sollen, bevor er sein Gift in dich gespritzt hat. Los, mach die Beine auseinander. Und sag mir jetzt nicht, du könntest es nicht. Du konntest es vor ein paar Wochen doch auch. Auseinander damit!“, schrie er. Ich gehorchte. Tränen fluteten mein Gesicht, während er immer wieder zutrat. Wenn er so weitermachte, müsste ich nicht mehr abtreiben. Dann hätte sich die Angelegenheit von selbst erledigt.
    „Frauen sind undankbare Geschöpfe! Sie kriechen und rutschen vor uns Männern auf dem Boden rum, nur damit sie das bekommen, was sie wollen. Widerlich! Abartig! Es gibt nichts perverseres als eine Frau, die für ein paar mickrige Kröten ihre kostbare Unschuld an einen Mann verkauft.“ Ben spuckte mir ins Gesicht. Sein Absatz ruhte noch immer in meinem Unterleib. Ich spuckte mittlerweile Blut und wünschte mich ins Koma. Sollte er doch endlich so festzutreten, dass ich nichts mehr spürte. So bösartig hatte ich ihn noch nie erlebt. Sobald er von mir abließe, würde ich meine Sachen packen und von hier verschwinden. Da würde ich lieber zu meinem Vater zurückkehren oder meinen Hintern in die Bahn setzen und zu meiner Mutter fahren. Alles nur, fort von hier.
Allmählich wurde Ben müde. Seine Tritte verfehlten meine Eingeweide. Ich rollte mich zusammen und stöhnte wegen des brennenden Schmerzes zwischen den Beinen. Es dauerte einen Moment, bis Ben seine Fassung zurückerlangt hatte und er weiterschimpfte. Anscheinend waren ihm die Worte ausgegangen.
    „Ich hasse dich!“, schrie er.
    „Mit deiner gierigen, lüsternen und dreckigen Art hast, du alles ruiniert. Du bist unter meiner Würde.“ Und dann lachte er. Er lachte lauthals und klopfte sich vor Lachen auf die Schenkel. Ich wusste nicht, was jetzt lustig war, doch genauso schnell wie er gelacht hatte, verstummte er auch wieder. Betroffenes Schweigen.
Die Schlapplatte hatte ihr Ende gefunden und anscheinend wollte er auch keine neue mehr auflegen.
    „Ich gehe zu meinem Vater.“
Auf Knien rutschte ich zum Schlafzimmer. Ben stellte sich mir in den Weg.
    „Und das ist die Dankbarkeit? Hast du vergessen, dass ich dich bei mir aufgenommen habe, als dich niemand anderes mehr haben wollte?“
    „Ich bin freiwillig hergekommen. Weil du mich gebeten hast, zu bleiben. Du hast gesagt, dass du mich magst“, jammerte ich. Mir wurde bewusst, ich musste mich zusammenreißen. Auf Mitleid brauchte ich nicht zu hoffen. Die Drogen hatten Ben mittlerweile so sehr den Kopf verdreht und seine Gefühlswelt manipuliert, dass er nicht mehr Herr der Lage war. Das, was er vom Stapel ließ, zeugte keinesfalls seiner Anschauung vom Respekt gegenüber Frauen. Es war wie mit meinem Vater. Beide konnten nicht anders. Sie waren ihren Dämonen unterlegen.
    „Du wirst nirgendwohin gehen. Du bleibst hier, bis das mit deinem Kind ausgestanden ist. Oder meinst du, ich will, das hier jeder weiß, dass eine Hure unter meinem Dach wohnt?“
    „Nein, natürlich nicht!“, sagte ich gefasst. Mit dem Ärmel meines Pullovers wischte ich das Blut aus meinem Gesicht. Die Schmerzen zwischen meinen Beinen waren unerträglich.
    „Du wärst nicht die erste, die ich hier ankette. Schau dort!“ Ungeniert seiner sadistischen Gewaltausbrüche zeigte er mir das Heizungsrohr im Wohnzimmer.
    „Dort kann man Huren wie dich prima anketten! Solange, bis das Kind aus deinem Bauch fällt. Dann schmeiße ich es aus dem Fenster und wenn es unten an der Straße auf dem Asphalt aufschlägt, dann werden es alle sehen. Sie werden sehen, dass es nicht mein Kind ist. Denn, wenn es mein Kind wäre, dann würde ich es lieben und was man liebt, das tötet nicht. Klingt doch logisch oder, Fotze?“
    Kraftlos nickte ich. Ich hatte mich aufgerappelt. Suchte in Eile meine wichtigsten Sachen zusammen.
    „Erstaunlich, dass du noch aufrecht stehen kannst, Hure. Ich dachte eigentlich, ich hätte dir deine Eingeweide getrimmt, dass dir die Suppe aus der Möse spritzt. Aber anscheinend will dieser Wurm in dir tatsächlich überleben.“
    „Ben, hör doch bitte auf! Ich hätte nie gedacht, dass ich mich so in dir getäuscht habe.“
    „In mir getäuscht? In mir? Du wagst es, mich infrage zu stellen? Wer hat dir ein Dach über dem Kopf gegeben? Ein warmes Bett? Essen, Trinken und deine scheiß Drogen finanziert, weil du ja unbedingt Kiffen, Sniefen und Fixen musst.“
    „Du hast mich an die Drogen gebracht und das weißt du genau. Hör auf damit, bitte. Ich packe jetzt meine Sachen und gehe. Du wirst nie wieder etwas von mir hören, das verspreche ich dir.“
    „Nee Fräulein, so einfach ist das nicht! So leicht kommst du mir nicht davon!“
    „Lass uns Freunde bleiben!“
    „Du hast sie doch wohl nicht mehr alle.“
Mir fiel zur Besänftigung einfach nichts anderes ein. Wie hätte ich Ben beruhigen sollen?
Er riss meine Tasche aus den Händen. Verpasste mir einen Schubser, der mich auf das Bett katapultierte.
    „So, du dämliche Hure. Du hast jetzt noch genau zwei Wünsche frei und sobald du diese geäußert hast, werde ich die Regie über dein weiteres Leben übernehmen. Zumindest für die nächsten neun Monate. Und das eine kann ich dir schon jetzt versprechen. Diesen Ort wirst du die nächsten 36 Wochen nicht mehr verlassen. Ich werde entscheiden, wann du auf die Toilette gehen, was du wann und wo Essen und Trinken darfst. Außerdem führe ich Regie, wer seinen dreckigen Schwanz in deine Möse steckt, damit du deine Schulden bezahlst. Und glaube mir, da wirst du lange bluten müssen, bis hier alles beglichen ist.“
    „Ben, was redest du?“ Ich überlegte um Hilfe zu schreien. Aus seinem Gesichtsausdruck ließ sich eindeutig entnehmen, dass er das, was er redete, todernst meinte.
Er machte sich an dem Nachttischschränkchen zu schaffen.
Aus der Schublade zog er Handschellen.
    „Ist nicht dein Ernst oder?“ In mir begann es zu zittern.
    „Los, runter auf die Knie mit dir!“
Ich gehorchte. Es fühlte sich an als ob alles Blut in meinem Körper dorthin floss, wo Ben mich hingetreten hatte und der Rest von mir taub und nutzlos war. Ich stöhnte auf als ich Luft holte, nicht absichtlich, nicht einmal bewusst. Der Schmerz musste einen Weg nach draußen finden und mein Mund schien die einzige Möglichkeit zu sein.
Ben beugte sich so weit vor, dass ich beinahe rückwärts umkippte.
    „Huren sind zum Sitzen nicht geeignet. Nur zum Knien!“, grinste er und dann klickten die Handschellen. Ohne große Worte schleifte er mich zum Wohnzimmer und hakte den Verschluss der Handschellen an einen eigens dafür vorgesehenen Haken am Heizungsrohr.
Meine Arme kopfüber gestreckt, kauerte ich in einer mehr als miesen Position. So könnte ich weder schlafen, noch dösen. Meine Knochen glichen einer Verknotung sondergleichen.
    „Die zwei Wünsche? Ich höre?“
    „Lass mich bitte gehen!“, schluchzte ich. Meine Tränen konnte ich nicht mehr zurückhalten.
    „Abgelehnt“, grinste er.
    „Mit dem nächsten Wunsch solltest du ein wenig sorgfältiger umgehen. Hast ja nur noch den einen.“
    „Behandele mich während der 36 Wochen bitte nicht unmenschlich!“
    „Oh, ein interessanter Wunsch. Ich werde mal schauen was sich machen lässt.“
Ich wollte nicht weinen. Mittlerweile hatte ich zur Genüge gelernt, dass Weinen nichts nützte.
    „Ich müsste zur Toilette.“
    „Negativ. Du hattest zwei Wünsche. Hast beide verplempert. Ich will erst drüber nachdenken, ob ich dem einen Wunsch nachgebe. Wenn ja, dann kannst du morgen auf den Eimer gehen. Allerdings habe ich erst meine Geschäfte zu erledigen. Geduld ist gefragt, Schätzelein.“
Ich dachte, niemand sollte mich Schätzelein nennen, aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle?
Den Urin konnte ich bis zum nächsten Morgen zurückhalten. Ich glaubte, meine Blase würde jeden Augenblick platzen. Dann pinkelte ich mir aus Verzweiflung in die Hose. Ich konnte nicht einmal nach Ben rufen und ihm vom Malheur berichten oder um einen Eimer bitten, weil dieser zur Vorsorge während der Nacht einen Knebel in meinen Mund gestopft hatte. Eine alte Socke und mit Panzerband einmal meinen Kopf umwickelt, war ich mundtot und außer Gefecht gesetzt worden. 
Unter meinem Gesäß verbreitete sich eine gelbe Pfütze.
Ich schämte mich.
Fühlte mich hundeelend.
Meine Situation war mehr als erniedrigend.
Es durfte nicht sein Ernst sein, dass er jetzt 36 Wochen lang dieses dreckige Spiel mit mir spielen wollte. Ich angekettet und hilflos, in meiner eigenen Pisse sitzen sollte und auf ein Wunder hoffen müsste, dass er sich gnädig erwies, mir zu Essen und zu trinken zu geben.


 

Die Hündin

    „So wie du dich verhältst, sollte sich Menschen gegenüber niemand verhalten!“, sagte ich, nachdem Ben den Knebel aus meinem Mund genommen hatte.
    „Du wirst die Sauerei jetzt wegwischen hier.“ 
Ben nahm die Handschellen ab und drückte mir einen Eimer, Schrubber sowie einen Putzlappen in die Hand. Vor Schmerzen konnte ich kaum aufrecht gehen. Auf allen Vieren robbte ich über den Boden und wischte meine Pisse auf.
    „Beeil dich, ich muss gleich los.“ Ich wimmerte, als er mich nach dem Putzen an den Haaren vom Wohnzimmer ins Badezimmer schleifte, weil ich meine Hose ausziehen sollte. Ich würde nicht riskieren etwas zu sagen, um ihn nicht noch mehr zu verärgern. Letztendlich hatte ich die Situation immer noch unter Kontrolle, weil ich mich selbst kontrollieren konnte. Zumindest spürte ich meine Bedürfnisse. Nur wenn ich zur Toilette musste und mich niemand gehen ließ, dann war es reine Schikane, mich dieser Situation auszusetzen. Doch, ich hatte schon Schlimmeres überlebt. War härtere Bandagen gewohnt.
Zudem verstand ich jetzt meinen Platz in all dem Elend. Ich war der Prellball der verletzten Gefühle anderer Menschen.
Während ich die Putzsachen wegräumte, war Bens stummer Blick die einzige Konstante in einer Welt, die ständig in Bewegung zu sein schien. So oft hatte er mich in den letzten zwei Tagen herumgeschleudert und gegen Wände geschubst, dass mein ganzer Körper schmerzte. Ben hatte wahrscheinlich das Gefühl, mich angemessen bestraft zu haben. Somit brauchte ich mich um nichts weiter kümmern, als um meine Schmerzen, nachdem er mich wieder an das Heizungsrohr kettete. Meine Hose durfte ich allerdings nicht mehr anziehen.
    „Meine Jeans“, flehte ich, bevor die nach Schweiß stinkende Socke in meinem Mund landete.
    „Brauchst du nicht, die Hose.“

Als Ben das nächste Mal von seinen Dealer Geschäften nachhause kam, brachte er einen Hund mit. Eine junge Hündin namens Lea. Eine Mischung aus Labrador und irgendwas. Ein freundlicher Hund. Schweifwedelnd begrüßte sie mich, die Hündin. Ben hielt es allerdings nicht für notwendig, mich aus den Handschellen zu befreien, um das Fell des Tieres zu streicheln.
Eine beklemmende Situation, ein Tier, das meine Nähe suchte, noch nicht einmal berühren zu können.
Ben liebte es, auf der Couch zu sitzen, fernzusehen, ein Bierchen zu trinken und sein Koks durch die Nase zu ziehen, während ich hilflos und angekettet neben ihm saß. Mit dem Kopf zur Wand gedreht, durfte ich kein Fernsehen gucken.
    „Du kannst zuhören, was die im TV erzählen. Das reicht völlig. Huren haben kein Anrecht auf einen Fernseher. Du bist eine Sündige. Denk erst mal über deine Schandtaten nach, bevor du mich um einen Gefallen bittest.“
Seitdem ich die Wohnung nicht mehr aufräumte, weil Ben mich nur noch höchst selten frei herumlaufen ließ, stapelten sich Unrat, Dreck, Wäsche, leere Flaschen und Müll in den Zimmern. Für einen jungen Hund wie Lea war die Umgebung in der sie lebte, eine Zumutung. Ben ging kaum mit ihr vor die Tür. Ich wusste nicht, welchen Zweck das Tier erfüllen sollte. Ben war lieblos dem Hund gegenüber. Keine Zeit für Streicheleinheiten, Kuschelphasen oder Spaziergänge.
Doch ich fragte nicht. Ich wollte keinen Ärger riskieren.
Aus lauter Not, weil sich niemand um Lea kümmerte, erledigte sie ihr Geschäft notdürftig entweder im Wohnzimmer oder direkt in der Küche.
Während Ben unterwegs war, saß ich oftmals stundenlang in dem Geruch von Hundescheiße. Mir war speiübel und nicht selten musste ich mich übergeben.
Kam Ben nachhause, brach das Donnerwetter über mich herein.
    „Du hättest mal mit dem Hund rausgehen sollen“, schimpfte er. Ich fragte mich, was seine Mission wäre, mich derart zu verarschen?
    „War ein schlechter Witz, nicht wahr?“, frotzelte er.
    „Die Lea ist nur vorübergehend hier. Wir müssen ihr was einpflanzen und dann spielt sie unseren Überbringer.“
    „Was hast du vor mit dem Hund?“
    „Hast du noch nie etwas von einem tierischen Boten gehört? Den Viechern werden die Tütchen Koks direkt in den Magen implantiert. Ein kleiner Bauchschnitt wie bei der Gebärmutterentfernung, Koks rein und anschließend wieder raus. Sicherster Platz zum Drogenschmuggel überhaupt. Sicherer jedenfalls, als das Zeug unter der Karosserie eines Gebrauchtwagens zu verstecken! Der Köter hat in seinem Leben keine andere Funktion, als Drogen zu schmuggeln.“ Ben lachte dreckig. Ich fand die Geschichte gar nicht witzig.
Die Tage zogen ins Land.
Mittlerweile hatte ich mich an das Elend gewöhnt. Ich schlief im Sitzen. Fiel immer nur in eine Art Halbschlaf, aus dem ich im Sekundentakt jäh aufschreckte. Meine Handgelenke schmerzten. Mein Busen schmerzte. Mein Bauch wurde dicker. Die Schwangerschaft war nicht mehr zu übersehen.
    „Soll ich das Kind jetzt eigentlich austragen oder nicht?“, fragte ich.
    „Das weiß ich auch noch nicht. Da mache ich mir jeden Tag meine Gedanken zu, gelange jedoch zu keinem Ergebnis.“
    „Kannst mir ja noch ein paar Tritte verpassen, dann hat sich das mit dem Baby sowieso Mal erledigt“, sagte ich.
    „Das hättest du wohl gerne, was? Nee, du sollst dich schon um deinen Nachwuchs kümmern, wenn er denn da ist.“
Nach der ersten Nacht, in der ich ohne Handschellen auf dem Boden schlafen durfte, nahm ich mir vor, wieder ein normales Leben zu führen. Irgendwie müsste sich das Herz von Ben doch erweichen lassen, dass wir vernünftig, wie normale Menschen miteinander redeten. Gleich in der Früh würde ich mich bei ihm entschuldigen. Für die Schwangerschaft, für mein Fehlverhalten. Wenngleich ich nicht wusste, was ich falsch gemacht hatte, so suchte ich die Fehler stets bei mir.
Mein Körper war jedoch so geschunden, dass ich mich kaum bewegen konnte als ich am Morgen mit geschwollenen und steifen Gliedmaßen aufwachte.
    „Wir bekommen heute Besuch!“, begrüßte mich Ben.
    „Du schaust schrecklich aus. Du solltest duschen. Zieh dir was Gescheites an. Meine Freunde müssen nicht sehen, dass du eine Hure bist.“
Da war es vorbei mit meinem Entschluss, Ben um Vergebung zu bitten. Seine Tonart war dieselbe wie immer. Die Hoffnung, dass er sich einsichtig zeigte, die könnte ich begraben.
    „Außerdem rufst du heute deinen Vater an. Ich will nicht, dass er womöglich die Polizei herschickt. Ich denke, du weißt, was du ihm zu erzählen hast?“

    „Ja Papa, mir geht es gut!“ Mein Vater klang erleichtert, meine Stimme zu hören.
    „Wann kommst du mich besuchen?“, fragte er.
    „Mal sehen“, druckste ich. Ben saß direkt vor mir. Er schnitt bösartige Grimassen. Ich wusste, sagte ich etwas Falsches, müsste ich das Elend in irgendeiner Bestrafung anschließend verbüßen.
    „Ich bin mit Ben sehr glücklich. Glücklicher, als ich es jemals zuvor gewesen bin!“
Ben hielt beide Daumen nach oben. Mit meiner Antwort war er mehr als zufrieden.
    „Du bist minderjährig, Samira. Deine Eltern haben ein Mitspracherecht, bei wem du wohnst. Außerdem möchte die Schule ganz gerne, dass du dich mal wieder sehen lässt.“
    „Dann lasse dir bitte etwas einfallen, Papa!“
    „Ja, was soll ich denen erzählen? Dass du jetzt Privatunterricht bekommst?“
    „Das wäre eine Möglichkeit!“
    „Ich lüge ungern.“ Innerlich lachte ich bitter auf. Mir wollte sich nicht erklären, wie mein Vater mit der größten Lüge überhaupt leben konnte. Nämlich, sich an seiner Tochter vergangen zu haben.
Ben riss mir das Handy aus der Hand.
    „Auf Wiedersehen Herr Bogner. Und liebe Grüße!“, sprach er in den Hörer.
Am Nachmittag standen wie angekündigt, Bens Freunde vor der Tür. Ich kannte sie alle. Alex, Rudolf und dieses blasse Mädchen, das mit mir zusammen im Auto auf der Rückbank gesessen hatte.
    „Na, wen haben wir denn da?“ Rudolf trat mir bedrohlich nahe nachdem ich die Tür geöffnet hatte. Seine Blicke zogen mich aus doch dann fielen sie auf meinen leicht rundlichen Bauch.
    „Was ist das denn? Hat die Olle etwa einen Braten in der Röhre?“, rief er belustigt.
    „Tach!“, begrüßte mich Alex.
Das stumme Mädchen blieb stumm.
    „Hallo!“, sagte ich leise. Sie antwortete nicht. Wortlos setzte sie sich neben Rudolf auf die Couch. Ben hatte zur Feier des Tages ein wenig Ordnung geschaffen und eine Duftkerze angesteckt, damit sich der üble Geruch von Hundepisse, Dreck und anderem Gestank weniger übel in die Nase setzte.
    „Was liegt an, Digger?“
    „Tja, einiges. Erst einmal müssen wir die Sache mit dem Dope besprechen. Immerhin geht es um zwanzig Riesen.“
    „Und wie willst du das Zeugs zum Kurt rüber schaffen?“
    „Lea! Komm mal her!“ Ben pfiff nach dem Hund, der es sich im Schlafzimmer auf dem Bett gemütlich gemacht hatte.
    „Dein Freund ist doch Tierarzt. Wir müssen das Zeugs in die Gebärmutter stopfen.
    „Welch eine perverse, aber gute Idee.“ Alles in der Runde lachte, während sich mir der Magen umdrehte.
    „Ich denke nicht, dass Frank das so einfach macht. Schon gar nicht in seiner Praxis. Viel zu gefährlich.“ Rudolf legte sein hässliches Gesicht in Falten.
    „Dann musst du ihn hierherschaffen. Soll er hier die Operation vornehmen.“
    „Was lässt du springen?“
    „Na, was kostet denn solche eine Operation?“
    „Ich denke, das wird dir niemand sagen können. Die Gebärmutter wird ja nicht rausgenommen.“
    „Na, anschließend, wenn das Zeugs beim Überbringer gelandet ist, schon.“ Und wieder lachte alles in der Runde.
    „Wäre Töten des Tieres nicht einfacher?“
    „Du meinst, wenn das Zeugs beim Überbringer gelandet ist?“ Rudolf rieb nachdenklich seine Nase.
    „Gut, das ist dann nicht mehr unser Bier.“
Die Hündin schnüffelte an der Hand des stummen Mädchens. Dieses streichelte über die kalte Hundenase. Wenigstens eine Regung, dachte ich berührt.
    „Und was ist mit ihr da?“ Rudolf zeigte auf mich.
    „Das ist eine Hure. Hat sich unten das Gift spritzen lassen von irgendeinem Drecksköter. Das ist der Dank, dass ich ihr ein zu Hause gegeben habe.
    „Sollen wir sie ein wenig ärgern?“ In Rudolfs Augen blitzte die sadistische Lust auf. Mittlerweile kannte ich die Partien um die Augen herum von Sadisten, Scheinen und Mistkerlen nur zu gut.
    „Ich habe schon angefangen, aber das Luder ist zäh.“ Ben deutete auf das Heizungsrohr.
    „Das macht ihr irgendwie nicht wirklich etwas aus.“
    „Doch, das macht es!“, sagte ich.
    „Du! Du wirst sie fertigmachen, Danielle!“ Ben zeigte auf das stumme Mädchen. Die Augen der Kleinen wurden entsetzlich groß und es schüttelte den Kopf.
Unter den Augen der anderen musste ich meine Kleidung ausziehen.
    „Wenn du nicht schwanger wärst, könntest du wenigstens für uns Tanzen!“, lachten die Jungs.
    „Schwangere haben immer schöne, große Titten“, lästerte Rudolf.
    „Zeig mal her!“, sagte er und griff gierig an meinen Busen. Aus meiner beschämenden Not machten sie sich einen Spaß. Sie griffen in meinen Schritt, rochen an ihren Händen mit denen sie mich dort unten berührt hatten. Schnüffelten süchtig an ihren Fingern, die sie in meine Scheide steckten. Sie fummelten an mir herum, als sei ich ein Versuchskaninchen. Ich musste mich mehrere Male um die eigene Achse drehen, die Arme hochnehmen, die Beine spreizen und dann sollte ich mich selbst streicheln. Meine Brüste sollte ich anfassen und ein mir bekanntes Kinderlied singen. Hätte ich mich gegen die Anweisungen gesträubt, wäre ich bestraft worden. Ich würde jedoch so oder so bestraft werden. Für nichts und wieder nichts. Für ihre Willkür, euphorische Freude im Schmerz eines hilf- und wehrlosen Menschen zu empfinden.
Mir fielen nur Biene Maja und Heidi ein.
    „Biene Maja oder lieber Heidi?“, fragte ich verstört.
    „Du schaust gerade eher aus wie Tim Thaler!“, frotzelten sie.
    „Alice im Wunderland hätte ich gern gehört!“, lachte Rudolf.
Nachdem ich meine schlechten Gesangskünste zum Besten gegeben hatte und meine Genitalien streichelte, wurde die Sache ernst.
    „Schlag die Hure!“, brüllte Ben. Er schaute in die Runde.
    „Wer soll sie denn schlagen?“, fragte Alex.
Ben vibrierte vor Wut. Sein Vorschlag kam anscheinend nicht so gut wie von ihm gedacht, rüber. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, bis er auf das stumme Mädchen fiel, das sich noch immer mit der Hündin Lea beschäftigte. Diese schüttelte heftig den Kopf, doch Ben knurrte.
    „Schlag sie! Schlag die Hure! Ich will nicht, dass Huren ungestraft herumlaufen.“
Alex beugte sich vor.
    „Ich mache das“, sagte er.
    „Nein! Sie!“, giftete Ben.
    „Lasst doch die Mädchen in Ruhe!“, sagte Alex mit ruhiger Stimme. „Niemand schlägt hier jemanden.“
    „Du weißt, was wir mit Verrätern machen, Alex? Du willst dir doch sicherlich nachher dein Dope mitnehmen? Wenn du dich hier als Braveheart oder den Frauenversteher aufspielst, dann ist es vorbei mit den Drogen.“
    „Also gut, ich mache es.“
    „Nein! Sie wird es machen! Sie soll beweisen, dass sie nicht mit der Hure unter einer Decke steckt. Dass sie zu ihren Freunden steht und nicht zu dieser Kreatur.“
Bens Worte schmerzten. Was war nur aus ihm geworden? Mir drängten sich die Tränen hinter den Augapfel. Ich kämpfte mit ihnen. Beschämt sah ich das fassungslose Mädchen an. Sie blickte bestürzt zu Boden. Lea hatte sich neben sie gesetzt. Ihre Hand zitterte, als sie diesen auf den Rumpf des Tieres legte. Sie wäre niemals in der Lage, jemanden zu schlagen. Weder einen Hund, noch mich, noch irgendwen anderes. Sie stand lediglich unter der Fuchtel dieser Schweine, die sich an meinem Leid ergötzten. Mit irgendeiner Schandtat hatten sie dieses Mädchen mundtot gemacht und sie erpressten es. Aus Angst schwieg sie, aus Angst wich sie Blicken aus und aus Angst war sie eine Mitläuferin ohne eigenen Willen.
    „Los, du blöde Schlampe! Schlag sie endlich!“, drohte Ben.
    „Ich kann nicht. Ich kann niemanden schlagen!“, jammerte das Mädchen. Das war das erste Mal, dass ich sie überhaupt sprechen und einen Muckser von sich geben hörte. Ben durchquerte den Raum so schnell, dass es kaum zu glauben war.
    „Seid Ihr jetzt alle bescheuert geworden? Was ist so schwer daran, jemandem eine Ohrfeige zu verpassen?“ Er steuerte auf das Mädchen zu und verpasste ihm eine Ohrfeige. Danielle taumelte.
    „Du machst es oder bekommst die Wichse stattdessen Und glaube mir, ich bin nicht zimperlich.“
    „Vielleicht sollte sie sich auch ausziehen?“, warf Rudolf in die Runde.
    „Das wäre ein Spaß! Hol mal jemand die Kamera! Zwei nackte Weiber im Ringkampf. Eine davon schwanger!“ Niemand lachte.
    „Schlag sie oder ich schicke dich und die Hure hier in den Keller, damit ihr üben könnt.“
    „In den Keller? Hast du überhaupt einen?“ Rudolf schaute stutzig.
    „Klar. Zu jeder Wohnung gehört ein Keller“, hüstelte Ben.
Danielle schüttelte immer noch den Kopf obwohl ich innerlich flüsterte; „Tu es doch endlich.“ Sie würde niemals so fest zuschlagen, wie Ben, Alex oder Rudolf es täten.
    „Danielle, tu es einfach!“, brüllte ich.
Weinend schüttelte sie den Kopf.
    „Bitte!“, flehte ich.
Schluchzend ballte sie eine Faust, erhob sich von der Couch, drückte mit ihrem Knie den Hund beiseite und schlug zu. Überrascht jaulte ich auf und trat einen Schritt zurück. So viel Schlagkraft hätte ich dem hageren Mädchen nicht zugetraut. Bens Augen leuchteten auf. Ich konnte hören, wie sein rasender Atem schneller wurde. Sein Blick war nichts als eine aufgelegte Maske, aber es gab kleine Dinge wie die Röte, die eine andere Geschichte erzählten. Er genoss es. Rudolf genoss es auch. Alex schaute weg. Lief unruhig im Zimmer auf und ab.
    „Hoffentlich seid ihr bald fertig“, nuschelte er.
    „Es hat noch gar nicht angefangen“, murmelte Ben.
Danielle schlug erneut zu. Sie schlug mir solange ins Gesicht, bis ihre Knöchel rot und geprellt waren, bevor der Satan sie mit vorgetäuschtem Schimpfen wegzog.
Nachdem Danielle ihren Verpflichtungen als Unterhalterin der Sippe nachgekommen war, setzte sie sich wieder auf die Couch und streichelte Lea, die sich keinen Zentimeter bewegt hatte.
Anschließend wurden die Drogentütchen verteilt, Bierchen getrunken und ich wurde wieder an das Heizungsrohr gefesselt. Dieses Mal allerdings splitterfasernackt.
Ich fror. Gar nicht mal wegen der Zimmertemperatur, sondern wegen der Kälte im Herzen meiner Peiniger.


 

Kein Wunder

    „Hast du einen Wunsch? Ich habe mich entschieden, dir wenigstens einmal die Woche einen Wunsch zu erfüllen.“
    „Ich möchte in mein Tagebuch schreiben.“
    „Du willst von dem erzählen, was dir passiert ist?“
    „Ja.“
    „Und wer soll das lesen?“
    „Ich weiß nicht. Niemand. Mein zweites Ich oder so“, druckste ich.
    „Dein zweites Ich. Bitte nicht noch eine Hure in meiner Wohnung.“
Ben schmiss mir das Tagebuch vor die Füße.
    „Schließt du die Handschellen auf?“
    „Jetzt nicht, später.“
Ben warf sich vor den Fernseher. Heute blieb er den Tag lang zu Hause. Das war ungewöhnlich.
    „Hast du keine Geschäfte?“
    „Nein, heute kann ich entspannen. Wenn Dirk morgen kommt und Lea das Dope einpflanzt, habe ich erst mal genug Geld verdient.“
    „Das kannst du nicht machen. Der Hund könnte bei draufgehen!“ Ich versuchte an seine Vernunft zu appellieren.
    „Na und?“, fragte er desinteressiert.
Gut, was stellte ich mich auf die Seite eines Tieres, wenn ihm schon das Leben zweier Menschen egal waren? Meines und das meines ungeborenen Kindes.
    „Und wenn ich meinen Vater besuchen möchte, als zweiten Wunsch?“, fragte ich mutig.
    „Ich glaube nicht, dass du den sehen willst. Du willst doch nur abhauen. Weg von mir. Weil ich so ein dreckiges Arschloch bin.“
Ich überlegte. Das war bestimmt eine Falle. Genau jetzt in diesem Moment war er auf der Suche nach Liebe. Immer wenn Menschen sagten, sie seien Arschlöcher und Dreckskerle, Schweinehunde oder was auch immer, dann wollten sie Liebesbekundungen hören. Mir fiel diese Redewendung ein. „Liebe mich dann am meisten, wenn ich es am wenigsten verdient habe!“
    „Du bist kein Arschloch, Ben. Sag sowas nicht.“
    „Doch, das bin ich. Und weißt du was? Es ist mir egal. Ich fühle mich gut in der Rolle.“
    „Das glaube ich dir nicht. In den Tiefen deiner Seele sehnst du dich nach Liebe. Genau wie ich.“
    „Jetzt werde mal bloß nicht sentimental, Hure.“
    „Hör doch auf, mich immer Hure zu nennen.“
    „Also, was ist dein Wunsch?“
    „Ich würde gerne mit dir schlafen!“
Ben lacht auf. „Nicht dein Ernst oder?“
    „Doch! Mir hat unser Sex gefallen.“
    „Ich überlege es mir. Ich schlafe nicht gern mit Schwangeren. Und auch nicht mit Huren.“
    „Musst ja nicht dran denken, dass die Hure einen Braten in der Röhre hat.“
Ich hatte es geschafft. Ich brachte Ben zum Lachen. Na ja, nicht ganz, aber wenigstens zum Schmunzeln.
Wenn er mit mir ins Bett stiege, wäre es eine Möglichkeit mich zu befreien. Auf dem Nachttischschränkchen stand eine kleine Lampe. Wenn ich ihm mit der eins überbraten würde, dann wäre das meine Fluchtmöglichkeit.
Doch, Ben schlief nicht mit mir. Im Gegenteil. Er hatte Gefallen daran gefunden, mich nach Belieben herumzustoßen und seine Gewaltbereitschaft eskalierte allmählich. Er liebte es, mich mit der geschlossenen Faust zu schlagen, in meinen Magen zu boxen und mich rücklings gegen die Wand zu drücken. Nicht selten schlang er seine Finger um meinen Hals und flüsterte: „Wie würde es dir gefallen, wenn ich mal so lange zudrücke, bist du keine Luft mehr kriegst?“
Immer wieder erzählte er von dem Keller, der zur Wohnung gehörte.
    „Ich könnte dich dort einsperren bis zur Entbindung. Du könntest dich einpissen und einscheißen, das würde im Keller niemanden interessieren. Ich stopfe dir die Socke in den Mund und dann hört dich auch niemand schreien. Die Wohnung hier, die muss sauber bleiben. Kommt immer mal jemand zu Besuch. Der Anblick einer dreckigen Hure ist nicht erfreulich.“ Bis er den Gedanken mit dem Keller in die Tat umsetzen wollte, steigerte er die Wucht seiner Schläge. Schließlich interessierte es niemanden, was mit mir geschah. Sein Leben lief einfach weiter, während meines in abertausend Scherben zerbrach.
    Der Sommer ging in den Herbst über. Ben drückte mir den Wäschekorb mit Schmutzwäsche in die Hand und dirigierte mich in den Keller.
Wir begegneten auf dem Weg über die Treppe einigen Nachbarn. Die spitze Faust in meinem Rücken ließ mich schweigen. Mit einem wortlosen Kopfnicken grüßte ich einen älteren Mann, den ich auch um Hilfe hätte bitten können. Doch die Angst vor dem Sterben und vor weiteren Bestrafungen war mittlerweile größer geworden als alles andere. Mit der hormonellen Veränderung wuchs in mir das Bedürfnis, mein ungeborenes Kind vor den Gewalttaten zu schützen. Ich trug eine Menge Verantwortung in mir, die sich nicht in Hass umwandeln ließ. Meine Gedankenwelt stand Kopf.
    Ben ließ mich mehrere Tage im Keller sitzen.
An ein Abflussrohr gekettet, mit der Socke im Mund, vegetierte ich vor mich hin. Ab und zu kam er in den Verschlag. Hielt mir das Handy ans Ohr und nahm den Knebel aus meinem Mund.
    „Papi wartet“, sagte er kalt.
Ich sprach mit meinem Vater. Unter Tränen erzählte ich ihm, wie glücklich ich sei und dass er Mama von mir grüßen sollte. Mein dicker Bauch schrie danach, ihm zu sagen, dass er und Mama Großeltern werden würden, doch ich wollte diese Schande nicht über meine Familie bringen.
    „Ist auch besser, wenn du deinen Alten nichts erzählst. Wenn das Kind da ist, dann finden wir schon eine Lösung“, sagte Ben.
    „Eine Lösung für was?“, fragte ich benommen. Seit Tagen quälte mich entsetzlicher Hunger.
    „Wie wir den Bastard loswerden. Wir könnten das Kind verkaufen. Es gibt genügend Ehepaare, die keine Kinder kriegen können. Die würden ein Vermögen für ein Baby auf den Tisch blättern.“
    „Was ist mit Lea?“ Der Gedanke, dass man der armen Hündin den Bauch aufgeschnitten hatte um das Tier als Drogenkurier zu missbrauchen, hatte mich keine Ruhe finden lassen.
    „Ihr geht’s gut. Dirk hat die Operation vorgenommen. Allerdings sieht das Wohnzimmer noch recht wüst aus. Der Köter hat eine Menge Blut verloren. Aber jetzt ist er auf dem Weg in den Süden. Ich bin gut bezahlt worden für die Sauerei. Irgendwo findet sich immer eine Möglichkeit, Geld zu verdienen.“
Ich glaubte Ben in einem guten Moment erwischt zu haben. Ich wollte ihn bitten, mich mit in die Wohnung zu nehmen. Ich sehnte mich nach einem heißen Bad. Doch irgendwie schien er nie gute Laune zu haben, wenn es um mich ging.
    „Hast du einen Kick für mich? Oder was zum Kiffen? Bitte!“, bettelte ich.
    „Für eine Hure ist es nicht gut, so viel Stoff zu kriegen“, sagte er tonlos. Ich verkniff mir eine Bemerkung. Es hatte keinen Sinn zu streiten.
    „Aber ich brauche ihn!“, sagte ich. In meiner Stimme lag ein Hauch von Jammern, der Ben auf die Nerven ging.
    „Und mir ist es verdammt egal, was du brauchst.“
Im Treppenhaus hörte ich Stimmen. Die Tür zu Bens Abteil stand offen und der Knebel steckte nicht zwischen meinen Zähnen. Wenn ich jetzt die Aufmerksamkeit auf mich lenkte, unterschrieb ich mein eigenes Todesurteil.
Ben legte den Finger an die Lippen. Er warf sich auf mich. Er stöhnte und küsste meinen Mund.
    „Hey, treibt Ihr zwei es etwa miteinander hier unten im Keller oder was?“, hörte ich eine Männerstimme. Ich ließ es geschehen. Ben atmete erleichtert auf.
Als die Nachbarn die Treppen wieder raufschlichen, schob er die Tür ins Schloss. Aus seiner Hosentasche zog er ein Päckchen Koks.
    „Hier!“, sagte er. „Mach schnell. Ich muss dich wieder anketten.“
Den nächsten Tag kam er mit einer Jogginghose in den Keller.
    „Zieh die an und die vollgeschissene packst du hier in den Sack! Die landet draußen im Müll. Das mit dem Keller können wir so nicht mehr machen. Ich habe keine Lust, den Hintern einer Hure trockenzulegen. Das ist ekelhaft. Da muss ich mir was anderes überlegen.
Schimpfend dirigierte er mich in die Wohnung.
Die hatte ich jetzt drei Tage lang nicht gesehen. Es sah fürchterlich aus und noch schlimmer. Wir mussten über Berge von Müll steigen um ins Schlafzimmer zu gelangen.
    „Was ist hier passiert?“, fragte ich entsetzt.
    „Wir haben ein bisschen gefeiert. Meine Beförderung zum Kurier. Ich habe keine Lust, aufzuräumen.“
Er schubste mich ins Wohnzimmer.
Auf dem Tisch klebte eine verkrustete Blutlache.
    „Lea?“, fragte ich entsetzt.
    „Ja, das Blut ist von dem Köter. Kannst du das saubermachen?“
Während sich Ben einen Schuss setzte, schrubbte ich die Tischplatte.
    „Ich muss gleich noch mal weg“, sagte er. Seine Stimme klang kraftlos. Die Drogen forderten anscheinend ihren Tribut. Während er mich auf Sparflamme gehalten hatte, hatte er an dem Dreckszeug anscheinend nicht gespart.
    „Wo sind die Handschellen?“, fragte er benommen.
    „Keine Ahnung“, sagte ich. In dem Durcheinander fand sich nicht mal ein Kochtopf wieder.
    „Im Keller?“, sagte ich.
    „Ja, im Keller. Fuck. Komm, ab ins Badezimmer mit dir. Mit einem Seil verknotete er meine Handgelenke. Eine Stinksocke wanderte zwischen meine Zähne.
    „Ich schließe ab. Schreien kannst du nicht, weglaufen auch nicht. Ich bin später zurück.“ Ich erstarrte auf der Stelle. Jedes Mal, wenn Ben mit mir sprach, dann reagierte ich wie auf das Kratzen von Kreide an der Schultafel. Es hatte keinen Sinn mit ihm zu diskutieren. Obwohl er von den Drogen gezeichnet war, besaß er Kraft genug, mich an den Haaren zu packen und auf den schmutzigen Boden zu werfen. Ben trat mich, bevor er einen langen Zug an seiner Zigarette nahm die wie immer hinter seinem Ohr gelegen hatte. „Hast du eigentlich mal in den Spiegel geschaut?“, fragte er.
     Ich konnte wegen der Socke in meinem Mund nicht antworten. Außerdem wäre jede Diskussion zwecklos gewesen. Der nächste Tritt ging an einen vertrauten Ort. Die Hämatome vom letzten Mal waren endlich verblasst, aber jedes Mal, wenn mich seine Ferse in meinem Schritt traf, entflammte mein Becken vor Schmerzen. Mein Bauch war mittlerweile so dick geworden, dass ich das Baby in ihm strampeln spürte.
    Ben grinste. „Gefällt dir das, Hure? Kannst du es überhaupt noch spüren nach all den Männern, die dich benutzt haben?“ Er zog mein Shirt hoch und drückte die brennende Zigarette an meinem rundlichen Bauch aus. Ich schrie auf so gut es der Knebel zuließ. Ich versuchte vor ihm wegzukriechen, doch die Ferse traf mich an weiteren, empfindlichen Stellen.
    „Für dich ist das ein weiterer, normaler Tag, nicht wahr? Ein weiterer Tag, an dem du einfach die Beine breitmachst und dich von Männern für Geld ficken lässt. Anschließend kaufst du Kleidung und Heroin von dem Geld, für das du dich pimpern ließest.“
Ich kroch vor ihm auf dem Boden herum wie eine hilflose Raupe, die darauf hoffte, nicht plattgetreten zu werden.
    „Du hättest dein Leben haben können. Du hättest glücklich sein können. Wir hätten glücklich sein können. Aber alles was du getan hast, war es, deine Beine breitzumachen für das Gift der Männer. Du bist schlimmer als ein wertloses Stück Scheiße.“
Ein stechender Körper durchzog meinen Körper nachdem Ben die Tür geschlossen und von außen verschossen hatte. Von alleine würde ich gar nicht mehr auf die Beine kommen mit über dem Rücken gefesselten Händen. Ich rollte mich wie ein Ball zusammen um den Schmerz in meinem Inneren zu bekämpfen. Ich zitterte, versuchte aber, regungslos zu bleiben. Ich hoffte wider besseres Wissen, dass Ben mich einfach hier im Badezimmer vergessen würde und ich in Ruhe sterben könnte.
    Hatte ich geglaubt, dass die Bestrafung vorbei war, so hatte ich mich gewaltig geirrt. Der Schmerz war nur ein Teil der Lektion. Es musste weitere Demütigungen geben.
Die Tür flog wieder auf und Ben riss mich auf die Beine.
    „Das reicht nicht. Das reicht noch lange nicht“, fluchte er.
Er riss meine Hose und den Slip vom Leib. Fahrig zog er den Gürtel aus seiner Jeans. Er schlug solange zu, bis sich die Striemen an Gesäß und Oberschenkeln abzeichneten. Die Zigarette drückte er an meinem Oberschenkel ziemlich nahe der Vagina aus. Sollte ich ihm von diesem Tag an als lebender Aschenbecher dienen?
    „So, jetzt ist es genug. Jetzt kann ich gehen.“ Ben drehte sich um, zog den Gürtel durch die Schlaufen der Jeans und schlug die Tür abermals hinter sich zu. Der Schlüssel drehte sich zwei Mal im Schloss herum.
Ich hörte die Wohnungstür ins Schloss fallen.


Allein

Das Zeitgefühl hatte ich verloren. Aber es mussten mindestens zwei Tage vergangen sein, dass beängstigende Stille in der Wohnung herrschte.
Noch immer regungslos, lag ich am Boden auf den dreckigen Fliesen. Die Tritte und Schläge hatten mich beinahe ohnmächtig werden lassen. Ich fiel in einen unruhigen Schlaf, geweckt wurde ich von den Tritten des Babys in meinem Bauch.
    Der Urin drängte sich gegen meine Blase. Seit der Schwangerschaft musste ich sowieso bedeutend mehr Wasser lassen. Mit letzter Kraft robbte ich mich zur Toilettenschüssel. Wuchtete meinen Unterleib auf die Brille und ließ einen reißenden Fluss unter mir ins Klo fallen. Aus Erschöpfung fiel ich wieder zu Boden. Meine Hose diente als Kopfkissen.
Die Nacht hielt Einzug. Noch immer war nichts zu hören. Die Wohnung schien leer geblieben zu sein. Von Ben fehlte jede Spur.
    Als der Morgen mit hoffnungsbringenden Sonnenstrahlen durch das winzige Badezimmerfenster fiel, versuchte ich mich von den Fesseln meiner Hände zu befreien. Energisch rupfte und ruckte ich solange, bis die Haut in blutigen Fetzen an dem Seil haften blieb.
Durch die blutige Feuchtigkeit besaßen meine Hände eine bessere Schmierung und sie glitten durch den Knoten. Das Seil löste sich tatsächlich. Das einzige Hindernis, das mich jetzt noch von der Freiheit trennte, war die Badezimmertür. Mehrere Male warf ich mich mit der Schulter zuerst gegen die massive Holztür. Ich hatte es im Fernsehen gesehen. So viele Male, wie sich Türen ein und aufbrechen ließen. Nicht aufgeben. Immer wieder und wieder mit dem Körpergewicht dagegen schmeißen. Solange, bis die Tür endlich nachgeben würde. Es vergingen zwei weitere Tage, bis das Schloss endlich nachgab und die Tür tatsächlich aufflog.
    Hilflos stapfte ich durch die Wohnung und durch das Chaos, das Ben hinterlassen hatte. Mein Durst war unerträglich. Der Kühlschrank war gut gefüllt. Die Flasche Cola hörte den Knall nicht. Mit hungrigem Magen riss ich eine Tüte Brot auf und kaute die harten Krusten. Anschließend aß ich zwei Tafeln Schokolade und vertilgte eine Tüte Chips.
Erschöpft fiel ich auf die Couch und begutachtete meine Blessuren. Mein Körper war übersät mit Hämatomen und gelben Flecken aus Tritten und Schlägen vergangener Tage, die langsam verheilten.
Ich war frei.
Ich könnte jetzt gehen. Selbst wenn die Wohnungstür verschlossen wäre, mein Handy lag auf dem Wohnzimmertisch. Ich könnte die Polizei anrufen, meinen Vater oder meine Mutter oder sonst wen. Das Martyrium hatte sein Ende gefunden.
    Doch ich blieb in der Wohnung. Ich hoffte nicht einmal auf Bens Rückkehr, traute mich jedoch nicht, die Welt außerhalb zu betreten. Eingeschüchtert und verängstigt, griff ich nach dem Handy und rief meine Mutter an.
    „Mama?“, schluchzte ich.
    „Samira. Mensch, wo steckst du? Und warum meldest du dich nicht?“ Ihre Stimme klang vorwurfsvoll.
    „Ich bin noch bei Ben. Mir geht es gut Mama.“ Meine Tränen strömten über meine erhitzten Wangen. In dem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich meiner Mutter erst dann wieder unter die Augen treten könnte, wenn ich das Kind mir ausgetragen oder abgetrieben hätte. Keinesfalls durfte ich ihr von meinem Missgeschick erzählen. Ich wollte keine Schande über meine Familie bringen.
    „Wie soll es denn weitergehen? Wie Papa mir gesagt hast, schwänzt du fast seit einem halben Jahr die Schule.“
    „Länger als ein halbes Jahr, Mama.“
    „Aber warum denn?“
    „Ich führe jetzt ein anderes Leben und ich bin glücklich. Ich bin es leid, jenes Kind zu sein das Ihr gerne gehabt hättet. Niemand von euch hat sich um mich gekümmert. Niemand war da, als ich wen gebraucht hätte. Ben sorgt sich um mich. Ich liebe ihn.“
    Die Angst, jeden Augenblick könnte die Tür auffliegen und eine Polizeieinheit die Wohnung stürmen, weil meine Eltern endlich Bens Adresse rausgefunden hatten, war unsagbar groß. Eigentlich hätten sie nur das Handy orten müssen oder sich ein wenig mehr Mühe geben sollen, aber anscheinend waren ich und mein Schicksal ihnen dann doch egal.
    Ich beschäftigte mich bis zu Bens Rückkehr mit dem Aufräumen der Wohnung und mit dem Pflegen meiner Wunden.
Die Brandstellen wollten nicht heilen.
Aus einigen der Hautlöcher eiterte es. Im Badezimmerschrank fand sich eine Packung Antibiotika.
Ich schrieb in mein Tagebuch:

Das, was ich das letzte Jahr erlebt habe, glaubt mir niemand. Aber da ist dieses Kind in mir und ich muss mich um die Entbindung sorgen. Ich kann nicht ins Krankenhaus gehen. Dann wüsste jeder von meiner Schwangerschaft. Ich will nicht, dass meine Eltern von dem Kind erfahren.
Ich bin ein Schandfleck in der Familie. Ben hat Recht, wenn er sagt, ich sei eine Hure. Ich habe mich bezahlen lassen. Aber dieses Kind, das ist von ihm. Ich liebe Ben. Egal was er mir angetan hat, ich liebe ihn.

Es klingelte.
Ben! Schoss es mir in den Kopf.
Ich rannte aus dem Wohnzimmer zur Tür.
Nach vier Tagen endlich ein Lebenszeichen von ihm.
Ich hatte mir Sorgen gemacht. Doch jetzt würde alles gut werden. Nein, ich fragte mich nicht, warum er die Tür nicht mit dem Schlüssel öffnete und stattdessen klingelte. Mein Herz klopfte bis zum Anschlag. Und was wäre, wenn es nicht Ben war der vor der Tür stand, sondern jemand anderes? Die Polizei konnte es nicht sein. Die hätte die Tür wahrscheinlich gleich aufgebrochen. Meine Hirngespinste ließen mich die wenigen Meter bis zur Tür beinahe durchdrehen.
Skeptisch blickte ich durch den Spion.
Ich erkannte das Gesicht von Alex.
    „Du?“, fragte ich.
    „Lass mich rein“, japste er.
    „Ist was passiert?“ Ich ahnte Schreckliches.
    „Ja, das ist es.“ Er zog die Jacke aus und stapfte über die Müllsäcke ins Wohnzimmer. Ich hatte bereits versucht, das größte Chaos zu beseitigen.
    „Spar dir das Aufräumen“, sagte er. „Ben kommt nicht wieder.“
Wortlos setzte mich zu ihm auf die Couch.
    „Ist er… ist er…?“
    „Ja, er ist tot. Hat sich eine Überdosis verpasst. Auf der öffentlichen Toilette. Ich habe mir schon gedacht, dass du noch hier bist und von nichts weißt.“
    „Sag, dass das nicht wahr ist“, flehte ich ihn an. In dem Augenblick, als Alex von Bens Tod berichtete, spürte ich eine Traurigkeit in mir, wie ich sie nie zuvor erfahren hatte. Der Vater meines Kindes …. Überdosis?
    „Er hatte mich im Badezimmer eingesperrt und dann ist er weggegangen. Hätte ich gewusst, dass er …“ Mir fehlten die Worte. Meinen Tränen ließ ich freien Lauf.
    „Wie lange hast du noch?“ Alex deutete auf meinen Bauch.
    „Ich weiß es nicht. Denke, ein paar Tage.“
    „Du solltest ins Krankenhaus gehen, Samira. Die Wohnung hier wird irgendwann aufgelöst werden.“
    „Dann erfahren meine Eltern alles. Sie dürfen von dem Kind nichts wissen.“
    „Es sind deine Eltern. Sie werden dich aufnehmen.“
    „Mein Vater hat mich mehrere Jahre lang missbraucht. Meine Eltern haben sich getrennt, da war ich noch klein.“ Erstaunlich, wie ich in der Rückblende über mein Leben redete und aus ihm erzählte, denn wirklich erwachsen war ich doch auch jetzt noch nicht. Allerdings fühlte ich mich mittlerweile wie als sei ich dreißig Jahre alt oder noch älter.
    „Brauchst du irgendwas? Wenn ja, dann lass es mich wissen. Wir müssen jetzt alle Acht geben. Ich meine, dass Ben gedealt hat, das ist kein Geheimnis. Man hat uns alle auf dem Kieker. Ich denke, ich werde zur Vernehmung wissen. Wenn die Polizei von dir erfährt Samira, dann wirst auch du eine Vorladung erhalten. Ich wollte dich warnen.“
    „Ich kann dieses Kind nicht mehr wegmachen. Dafür ist es zu spät. Am Anfang hätte ich es gewollt, doch jetzt weiß ich, dass ich es austragen möchte. Es ist die letzte Erinnerung an Ben.“
    „Meinst du, Ben ist wahrhaftig der Vater?“
    „Ja, das ist er.“ Beschämt wich ich Alex fragenden Blicken aus.
    „Ich habe ihn geliebt. Ein Kind ist eine sichtbar gewordene Liebe.“
    „Schöner Spruch. Ich hoffe, du weißt, was du tust, Samira. Also, wenn du was brauchst, lass es mich wissen.“
    „Kennst du eine Hebamme? Jemanden, der mir bei der Geburt unter die Arme greifen könnte ohne dass er mich anschwärzt?“
    „Die Mutter einer Freundin ist Hebamme. Aber ich weiß nicht, ob sie dieses Kind den Behörden nicht melden muss. Wenn deine Eltern nichts von dem Kind wissen sollen, dann brauchst du jemanden, der garantiert den Mund hält!“
    „Falls dir jemand einfällt, lass es mich bitte wissen. Ich habe eine Scheißangst. Ich meine, es ist mein erstes Kind. Ich weiß überhaupt nicht, was abgeht und was mit meinem Körper passiert. Wenn du keine Hebamme findest, dann wäre es nett wenn…“
    „Wenn?“
    „Wenn irgendjemand dabei wäre.“
    „Zum Händchenhalten?“
    „Ja, so ähnlich.“ Ich brach in Tränen aus und warf mich an Alex seine Schulter.
    „Ich habe größten Respekt vor dir, Samira. Jeder von uns weiß, wie Ben dich behandelt hat. Und du, du nimmst ihn in Schutz. Das hat wirklich meine Hochachtung verdient.“
    „Die Drogen haben ihn kaputt gemacht. Er hatte einen guten Charakter“, schluchzte ich.
Alex seufzte. „Wo die Liebe hinfällt. Und wenn es auf den Misthaufen ist.“

    Die Nachricht von Bens Tod traf mich zutiefst.
Mir gingen Gedanken durch den Kopf, die sich in Worten nur schlecht beschreiben ließen. Stundenlang saß ich vor meinem Tagebuch und überlegte, wie ich sie am besten zu Papier bringen könnte. Die Tränen funkten mir immer wieder dazwischen. Ich fühlte mich wie zwischen den Stühlen zu sitzen. Ich hätte jederzeit den Saustall hier verlassen und zu meinem Vater gehen können.
Zwei Seelen tobten in meiner Brust.
    Ich fasste den Entschluss, mein Baby in Bens Wohnung auszutragen. An dem Ort, der mir in der letzten Zeit vertraut geworden war, fühlte ich mich zuversichtlich.
Hier wäre ich in Sicherheit, die Identität meines Kindes nicht preisgeben zu müssen und das war mir jetzt das Wichtigste.
    In wenigen Tagen würde es soweit sein. Die ersten Senkwehen machten sich bemerkbar. Sollte etwas schiefgehen, wäre ich gezwungen, mich ins Krankenhaus zu begeben. Dann würde die Lüge ans Tageslicht gebracht werden und ich hätte verloren. Gut, darauf wollte ich es ankommen lassen.
Wie es nach der Geburt weitergehen sollte, mit mir und dem Kind, ich hatte keinen Plan in der Tasche.
Der Kontakt zu meinen Eltern wurde regelmäßiger.
Ich versprach meinem Vater mein Leben alsbald wieder in den Griff zu bringen und eine Ausbildung zu absolvieren. Er gab sich mit meinen Nachrichten zufrieden.
In den Nächten träumte ich davon mein Kind auszusetzen. Es in der Babyklappe abzulegen. Alles wäre besser, als das Leben eines Kindes zu beenden. Leben, das gelebt werden will, hat ein Recht darauf, leben zu dürfen, schrieb ich in mein Tagebuch.
    Ich betrachtete mich im Spiegel. Wie oft dachte ich an Ben und er würde es nicht mehr erfahren.
Wie stark fühlte ich für ihn, trotz allem was er mir angetan hatte, ohne es mit ihm noch jemals teilen zu können.
Und doch gehörte er zu meiner Welt, weil sein vergangenes Lächeln, seine Worte, dieser bestimmte Blick oder eine Berührung genügt hatten, um sich danach nur noch zu wünschen, dass auch ich in seiner Welt gewesen wäre.
Aber manche Träume erfüllen sich nie und aus der Verheißung wurde die quälendste aller Sehnsüchte.
Die Ungestillte, weil ich es so nur schwer vergessen konnte. Sie würde mich ein ganzes Leben lang verfolgen. Wie ein Film oder ein Song, in dem sie immer auch eine Rolle spielt. Sie ist einfach überall. Es war die Vorstellung einer Liebe, für die ich gestorben wäre, weil sie anfangs so leidenschaftlich brannte.
Diese verrückte, große Liebe, die etwas entflammte, das unglücklich in mir weiterloderte, weil wir ihr nicht gewachsen waren.

Was heute Liebe ist, wird morgen Hass … endete ich in meinem Tagebuch.


 

Sonja

Ich war immer ein Sonnenkind. Sobald der Frühling die ersten Schneeglöckchen schickte und die Krokusse ihre Köpfe neugierig aus der Erde steckten, um der Welt ein freundliches Hallo entgegenzurufen, war ich die erste, die alles Leben bestaunte und das Gesicht der Sonne zuwendete. Mein Kind, sofern es ein Mädchen werden würde, sollte Sonja heißen.
Alex hatte tatsächlich eine junge Russin organisiert, die mein Baby auf die Welt bringen wollte.
    „Alleine ist das viel zu gefährlich. Du könntest bei der Entbindung draufgehen, Samira.“
Er hatte ein Kennenlernen organisiert. Olga kam zu mir in die Wohnung.
    „Kein guter Ort, um ein Baby auf die Welt zu bringen“, sagte sie emotionslos, nachdem sie die Wohnung inspiziert hatte.
    „Das weiß ich selbst“, antwortete ich.
    „Und warum gehst du nicht in ein Krankenhaus? Die ärztliche Versorgung steht jedem Menschen zu und sie ist heutzutage sehr gut. Auch denen, die im sozialen Abseits oder im Brennpunkt leben, hilft jede medizinische Einrichtung.“ Ich wollte mich einer fremden Person nicht offenbaren. Wollte ihr nicht aus meinem Leben erzählen. Doch anscheinend gab es einige Dinge, die sie wissen müsste.
    „Von dem Kind darf niemand erfahren. Zumindest meine Eltern nicht. Meine Eltern sind angesehene Leute in der Stadt, ich würde Schande über unsere Familie bringen. Dieses Kind ist unehelich und es stammt aus niederen Verhältnissen.“
    „Aber dieses Kind, es ist doch aus Liebe entstanden, Samira oder etwa nicht?“
Ich nickte. „Ja, es ist aus Liebe entstanden.“
    „Alex hat mir erzählt, dass der Vater sich umgebracht hat. Womöglich umgebracht.“ Ich wischte die Tränen aus meinem Gesicht.
    „Nehmen Sie auch Drogen?“
Ich nickte. Ja, ich hatte Bens Vorrat an Kokain restlos aufgebraucht und langsam wurde ich unruhig. Mein Körper schrie danach, mich mit dem Dope vollzustopfen, um die Schmerzen zu ertragen und mir dieses kurzweilige Glücksgefühl vorzugaukeln. Ich war längst auf Entzug. Lag zitternd und mit Schweißausbrüchen auf der dreckigen Matratze des Betts inmitten von Müll und Unrat. Ich war wegen des dicken Bauchs auch nicht mehr in der Lage, in der Wohnung für Ordnung zu sorgen. Ich fühlte mich mit allem überfordert. Und ständig musste ich am Telefon gute Miene zum bösen Spiel gegenüber meinen Eltern auflegen, das kostete immensen Kraftaufwand.
    „Ich habe mein Leben nicht mehr im Griff“, wisperte ich.
    „Wie alt bist du, Samira?“ Olga fühlte meinen Puls. Der raste nur so dahin wie ein Schnellzug.
    „18 Jahre!“, log ich.
    „Na, dann kannst du selbst entscheiden, wie es für dich weitergehen soll. Ich kann dir nur gutgemeinte Ratschläge mit auf deinen weiteren Weg geben. Weißt du, ich habe Alex versprochen, dass ich mein Wort halte. Dass ich dir helfe, aber niemandem etwas von diesem Baby sage.
Aber ich hoffe, dass du zur Besinnung kommst.“
Nur drei Tage später lag ich in den Wehen. Mit letzter Kraft hatte ich Alex angerufen und ihm gesagt, dass es losginge. Er kam zusammen mit Olga. Während ich in den Presswehen lag und mein Baby mit jeder Welle aus meinem Inneren in das Licht der Welt drückte, hielt er meine Hand. Mit dem kalten Waschlappen tupfte er über meine Stirn und sprach mir Mut zu. Er lächelte und formte seine Lippen zu einem Kussmund. Diese Geste ließ mich in meinem Schmerz lächeln.
    Ich weiß nicht, ob er Ben jemals ein Versprechen gegeben hatte, sich um mich zu kümmern, wenn die Zeit es verlangte, aber man hatte den Anschein, dass es so gewesen sein könnte.
    „Ein Mädchen!“ Olga versorgte die Nachgeburt und legte mir meine Tochter auf den Bauch. „Ein gesundes Mädchen“, lachte sie.
Der Moment, den Atmen seines Babys zu spüren, über das nasse Haar zu streicheln und den Geruch des neuen Lebens aufzunehmen, die kleinen Finger zu sehen, dieses Wunder der Welt zu betrachten und diese Eindrücke ganz tief in sich einzusaugen, nur um sie nie wieder freizulassen, war unbeschreiblich schön. Meine Angst war wie verflogen. Die Angst vor der Geburt, den Schmerzen, die Angst, nicht zu wissen, wie ich mich verhalten sollte und wie es weiterginge alles rückte in den Hintergrund.
    „Es sucht die Brust.“ Olga lächelte sanft. Sie war eine gute Hebamme. Geschickt, erfahren und doch liebevoll. Sie zeigte mir das Anlegen des Kindes und versorgte fachmännisch die Nabelschnur. Sie versprach wiederzukommen um nach mir und Sonja zu sehen. Alex blieb noch bei mir. Er wartete solange, bis ich vor Erschöpfung der Geburt in seinen Armen einschlief und anschließend erwachte. Er versorgte mich rührend, besorgte alles, was ich brauchte und las mir jeden Wunsch von den Augen ab.
    „Die Kleine hat deine Augen, Samira!“, sagte er freundlich.
    „Und den Mund, den hat sie vom Papa.“

Niemand im Haus hatte von der Geburt Wind bekommen. Niemand störte sich daran, dass in einem der Mülleimer frische Babywindeln lagen. Die Menschen gingen ihren Weg und scherte sich nicht um das Leben der anderen.
    „Und wenn du es deinen Eltern doch erzählst? Die Kleine ist so ein hübsches Baby, Samira. Meinst du nicht, deine Eltern wären stolz darauf, dass sie solch ein hübsches Enkelkind bekommen haben?“
Nein, das wäre für mich gar nicht infrage gekommen. Keinesfalls sollten meine Eltern von Sonja erfahren.
    „Und was ist mit der Wohnung? Du kannst nicht hierbleiben. Die Wohnung wird früher oder später geräumt werden.“ Alex äußerte nicht unwichtige Bedenken.
    „Ich gehe zu meinem Vater. Sobald ich die Kraft gefunden habe, besuche ich meine Eltern. Ich werde ihnen sagen, dass ich Geld brauche für eine Wohnung. Es wäre schön, wenn du auf Sonja aufpasst. Es ist nur für kurze Zeit.“
    „Klar passe ich auf die Kleine auf, aber bitte überlege es dir noch einmal. Du brauchst doch auch eine Ausstattung für die Kleine. Und wenn du eine Wohnung mietest, dann musst Möbel kaufen und Einrichtungsgegenstände. Du musst dich beim Amt melden. Und das Kind wirst du vor Gott und der Welt nicht ewig verheimlichen können.“
    „Solange es geht, werde ich niemandem von Sonja erzählen.“ Ich war mir meiner Sache sicher, dass mir niemand auf die Schliche kommen würde und so setzte ich mich in den Bus und fuhr zuversichtlich meine Eltern besuchen.
Nach fast einem Jahr sollte ich sie das erste Mal wiedersehen. Die Freude hielt sich in Grenzen, aber es war notwendig um weiteren unangenehmen Fragen zu entgehen und sie bei Laune zu halten.
Mein Vater nahm mich herzhaft in seine Arme. Er begrüßte mich als hätte er mich zehn Jahre lang nicht mehr gesehen.
    „Ich hätte nie gedacht, dass du es solange mit diesem Bastard aushältst“, sagte er fast weinerlich.
Vom Tode meines Freundes wusste er nichts.
Ich überlegte lange, ob ich es ihm erzählen sollte.
    „Wie soll das denn weitergehen mit euch? Ich meine, ihr lebt ein Lotterleben und das habe ich mir für meine einzige Tochter ganz sicherlich nicht gewünscht.“
    „Was hast du dir denn für dein einziges Kind gewünscht, Papa?“
    „Dass es glücklich groß werden darf und später etwas Anständiges lernt.“
    „Na mit dem glücklich Großwerden, das ist dir und Mama ja nicht so ganz gelungen. Ich war sehr unglücklich mit meinem Leben wenn ich dir das heute mal so sagen darf.“
    „Da gibt es keinen Grund für. Du hast alles bekommen, Samira. Es gab nichts, das Mama und ich dir verweigert hätten.“
    „Ich brauche Geld, Papa.“
    „Wofür?“
    „Für eine Wohnungseinrichtung.“
    „Aber die Wohnung von deinem Freund ist doch sicherlich eingerichtet oder etwa nicht? Weißt du, für den Penner will ich mein sauer verdientes Geld nicht ausgeben.“ Ich holte tief Luft. Ich müsste es ihm jetzt sagen. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt.
    „Ben ist tot.“
    „Bitte was?“ Mein Vater nahm seine Brille von der Nase. Das tat er höchst selten. Meist nur dann, wenn Krisenstimmung herrschte.
    „Überdosis. Für mich kam das auch unerwartet. Er ist einfach nicht mehr nachhause gekommen. Sein bester Freund hat mir die Nachricht überbracht.“
    „Und wenn es gelogen ist? Solche Typen wie der, die täuschen ihr Ableben einfach vor. Tauchen unter und woanders wieder auf.“
    „Ich denke nicht, dass du recht hast, aber selbst wenn, in meinem Leben gibt es keinen Ben mehr. Ich mache alleine weiter. Ja, keine Sorge. Ich werde meinen Schulabschluss machen. Aber wie gesagt, ich brauche Geld.“
    „Ich soll also deine Drogenkarriere finanzieren? Einen Scheißdreck werde ich tun, Samira. Komm nachhause, zieh in dein altes Kinderzimmer ein, reiße dich am Riemen und lasse etwas Gescheites aus dir werden.“
    „Ist das dein Ernst, Papa?“
    „Mein voller Ernst. Von mir gibt es keinen Cent. Erst, wenn du wieder normal wirst.“
    „Ich bin normal. Ich war nie normaler.“
Für mich war es überhaupt keine Option, nachhause zu gehen. Wohin mit Sonja? Mittlerweile war mir die Kleine ans Herz gewachsen. Ich würde mein Kind nicht im Stich lassen aber mit dem Baby in das Haus meines Vaters zurückzukehren, wäre ein absolutes No Go für mich. Was sollte ich tun? Zum Überleben brauchte ich Geld. Eine Menge Geld.
    „Dann such dir einen Nebenjob“, sagte mein Vater selbstgefällig.
    „Soll ich etwa wieder Hunde ausführen oder auf Hamster aufpassen?“ Am liebsten hätte ich ihm den Stinkefinger gezeigt.
    „Was weiß ich?“ Mein Vater tat gelangweilt.
Einmal Arschloch, immer Arschloch, dachte ich traurig.
    „Oder soll ich anschaffen gehen?“
    „Wenn du nett und lieb zu mir bist, dann können wir über die Angelegenheit vielleicht noch mal reden.“
    „Du meinst, wenn du mich wieder unsittlich anfasst, dann bezahlst du mich dafür, dass ich dir meinen Hintern hinhalte oder was?“
    „Für den Spruch hättest du eine Ohrfeige verdient.“ Die Augen meines Vaters funkelten zornig.
Sein Blick spie Feuer.
Mutig hielt ich ihm meine Wange hin. Das, was ich in der letzten Zeit erlebt hatte, es hätte nicht schlimmer kommen können. Mich erschütterte nichts mehr. Sollte er doch zuschlagen.
    „Nur zu. Tu dir keinen Zwang an“, sagte ich.
    „Was hat der Bastard nur aus dir gemacht? Weißt du was, ich bin froh, dass du aus meinem Leben verschwunden bist und ich denke es ist besser, wenn du wegbleibst und zwar für immer.“ Grob drängte er mich zur Tür.
    „Ich schäme mich für dich Papa! Mit Tränen in den Augen blickte ich dem Mann ins Gesicht, dem ich mein verficktes Leben zu verdanken hatte. Er war die Wurzel allen Übels. Niemals war es Liebe zwischen uns gewesen. Er wusste doch gar nicht, was Liebe bedeutete. Alles was er konnte, war ein Ausnutzen, Aussaugen und Ausbeuten. Auf Kosten anderer Menschen. All die Narben in meinem Herzen hatte ich ihm zu verdanken. Nie würde ich es zulassen, dass man meine alten Wunden aufriss.
    „Sauf weiter, Papa. Ertrinke dein wahres Gesicht ruhig im Alkohol!“ Mit einer Gelassenheit über die ich mich selbst wunderte, betrat ich ein letztes Mal mein Kinderzimmer. Nahm das, von dem ich glaubte, es noch gebrauchen zu können, an mich und ließ einen kleinen Augenblick mein Leben Revue passieren.
Die Traurigkeit in meiner Seele, sie hatte genau hier begonnen.
Zwei eingerahmte Bilder ließ ich in meinem Rucksack verschwinden. Erinnerungen an eine Zeit, in der ich so etwas wie Glück gefühlt hatte. Meine erste und einzige Reitstunde. Ich auf diesem riesigen Tier das sich Pferd nannte und jenes Foto, das mich als Baby in den Armen meiner Mutter zeigte.
Eines Tages würde ich es Sonja zeigen können.
Die Tränen wischte ich fort.
Die waren hier völlig fehl am Platz.
Ich hatte nicht bemerkt, dass mein Vater hinter mir stand.
    „Für eine Entschuldigung ist es wohl zu spät!“, murmelte er. Die Fahne seines Lieblingsgetränks Jack Daniels wehte mir ins Gesicht. Ekelhaft! Er musste soeben einen Schluck zu sich genommen haben. Was auch sonst? Im nüchternen Zustand hatte er gar nicht die Eier in der Hose, sein wahres Gesicht zu verteidigen. Mit Alkohol ging das viel besser. Wobei ich mich nicht mehr freisprechen konnte, Probleme nicht mit Drogen konsumieren zu wollen. In diese missliche Lage hatte mich Sonjas Vater gebracht. Und noch viel weiter. Und ja, dafür schämte ich mich zutiefst.
    „Ja, für ein es tut mir leid, ist es jetzt zu spät“, sagte ich. Forsch drängte ich mich an ihm vorbei.
Eiligen Schrittes verschwand ich über das Treppenhaus. Im Nacken spürte ich den Hass meines Vaters. Mir war nichts lieber, als auf schnellstem Wege das Haus zu verlassen, das nur Unheil über mich gebracht hatte. Auch wenn ich den Seerosenteich und den Garten vermissen würde. Traurig stimmte es mich, Sonja somit nicht zeigen zu können, wie herrschaftlich wir wohnten und dass sie eben kein Abschaum war.
Heute schon schmerzte mich die Erkenntnis bitter, meinem Kind irgendwann einmal mein wahres Ich zeigen zu müssen. Mein Baby hatte ein Recht darauf, seine wahre Herkunft zu erfahren.
    Der Besuch bei meiner Mutter verlief nicht wesentlich schöner. Sie begrüßte mich mechanisch. Aus dem Pflichtgefühl heraus, etwas tun zu müssen, nahm sie mich in ihre Arme. Sie duftete nach Jil Sander. Angenehm. Umgeben und Luxus und Reichtum fühlte ich mich neben ihr wie eine Putzfrau die im Theater die Toiletten reinigte. Wahrscheinlich gehörte ich längst zu dem niederen Volk, aber in den Wurzeln meiner Vergangenheit war ich doch etwas Besonderes gewesen. Ich suhlte mich jedenfalls in dem uneingeschränkten Vergnügen, als kleines Kind meinen besten Freunden all mein Spielzeug schenken zu können, ohne dass es finanziell irgendwem weh getan hätte. Und dafür erhielt ich von ihnen die Anerkennung, nach der sich jeder Mensch sehnt.
    „Du gehst nicht zurück zu Papa?“
    „Nein, ich bleibe in der Wohnung.“
    „Mit deinem Freund zusammen?“
    „Ja Mama, mit meinem Freund.“
Meine Mutter machte den Anschein, zufriedengestimmt zu sein, dass jedenfalls sie keinerlei Belastung mehr mit mir hatte. Sie gehörte schon immer zu der Sorte Mütter, denen das Kind auf den Zeiger ging und die froh waren, wenn sich jemand anderes um den Nachwuchs kümmerte.
    „Ich bin stolz auf dich, Samira“, sagte sie. Es fiel ihr schwer, diesen für mich eigentlich wichtigen Satz über ihre blutrotgeschminkten Lippen zu bringen. Richtig anstrengen musste sie sich und dass es gelogen war, das war ihr anzusehen. Dafür schämte sie sich auch nicht. Wie weh sie mir tat, spielte sie geschickt runter.
    „Du wirst deinen Weg gehen. Auch ohne deine Eltern.“ Sie drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Das war ihre Verabschiedung.
Als ich mit der Bahn nachhause fuhr, fühlte ich mich innerlich befreit.
Mein Handy hupte.
    „Hier ist alles paletti“, schrieb Alex.
    „Danke! Du bist ein Schatz!“, antwortete ich.
    „Wenn ich Sonja die Brust geben könnte, würde ich das auch noch machen“, kam es zurück.
Ob Alex und ich eine Chance hätten? Beziehungstechnisch? Nein. Er wäre nicht der passende Vater für meine Tochter. Auch wenn er den meisten Kriterien voll und ganz entsprach. Ben schien zunächst auch der Mann meiner Träume gewesen zu sein und entpuppte sich danach zum Albtraum schlechthin.
Auch wenn ich Ben geliebt hatte, so würde mir die Tragödie, die rosarote Brille nicht mehr absetzen zu können, um der Wahrheit ins Auge zu blicken, kein zweites Mal passieren. Somit wollte ich die rosarote Brille erst gar nicht mehr aufsetzen.
Alles was ich mir für die Zukunft wünschte, war wegzukommen von den Drogen und meinem Kind eine gute Mutter zu sein.


 

Die neue Wohnung

Alex hatte versprochen auf Sonja aufzupassen, während ich die Schulbank drückte. Auf ihn konnte ich mich verlassen. Genau wie Ben, gehörte auch er allerdings zu den Drogenkurieren. Somit saß ich an der Quelle, wenn ich das Bedürfnis spürte, mir einen Schuss zu verpassen. So sehr ich mir auch wünschte, von dem Dreckszeug loszukommen, ich schaffte es nicht.
Koks, Heroin und Tabletten, Alex kam an alles.
    „Ich kann dir das Zeug im Moment leider nicht bezahlen, Alex.“ Mir war es unangenehm, den Schnee entgegenzunehmen und ihn nicht zahlen zu können.
    „Du könntest es abarbeiten“, sagte er mit einem Grinsen im Gesicht. In mir läuteten sämtliche Alarmglocken. Genauso hatte es mit Ben auch angefangen.
Ich saß in der Zwickmühle. Wenn nicht Alex mein Lieferant bleiben würde, an wen sollte ich mich wenden? Ich hatte kein Geld und einen Babysitter hatte ich auch keinen. Ich durfte auch niemandem trauen. Zwar waren meine Eltern für mich gestorben, aber dass ich mir von Ben ein Kind hatte andrehen lassen, das sollten sie trotzdem nicht erfahren. Das ging mir über meine Ehre. Niemand würde mich mehr Hure oder Fotze nennen. Auch mein Vater nicht. Und der hätte sicherlich noch ganz andere Schimpfwörter für mich auf Lager.
    „Hättest du denn nicht mal Lust, mit mir zu schlafen?“ Alex klang enttäuscht. Anscheinend hatte er sich Hoffnungen gemacht. Auf Beziehung oder eine Partnerschaft mit mir.
    „Nein, habe ich nicht!“, sagte ich entschieden.
    „Dann pass doch auf deine Scheißblage alleine auf. Ich lasse mich nicht ausnutzen!“ Wütend verließ er meine Wohnung. Fazit: Den nächsten Tag fiel mein Schulunterricht aus.
    Ich konnte Sonja nicht alleine in der Wohnung lassen. Ich hoffte, Alex wäre einsichtig und würde wiederkommen, doch das tat er nicht. In seiner Ehre verletzt, hatte er die Reißleine gezogen. Nachdem er obendrein gemerkt hatte, dass er bei mir null Chancen hatte, verschwand er auf nimmer Wiedersehen.
    Da saß ich nun. Allein mit meinem Baby in der zugemüllten Wohnung, die zeitnah geräumt werden sollte. Den Brief, dass unser zu Hause zu räumen sei, der steckte seit mehreren Tagen ungeöffnet im Briefkasten.
Ich kannte die Wahrheit, konnte aber nichts mit ihr anfangen.
    Wohin sollte ich gehen ohne Geld? Ohne Perspektive, Geld zu verdienen?
Solange es ging, versuchte ich in Bens Wohnung zu bleiben und den falschen Lebenswandel stillschweigend auszusitzen.
Doch die Schlinge legte sich immer enger um meinen Hals.
Ich musste Pampers besorgen und Nahrung.
Für mich und Sonja meinen Kopf über Wasser halten.
Mir blieb nichts Anderes übrig, als die Wohnung zu verlassen um auf der Straße zu betteln.
    Sonja musste ich stundenweise alleine in der Wohnung zurücklassen. Ich hoffte, sie würde nicht schreien, keinerlei Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Von den Nachbarn wusste niemand von meinem Baby. Bisher war es mir souverän gelungen, alles zu verheimlichen. Sobald Sonja schrie, stellte ich das Radio auf volle Lautstärke oder den Fernseher. Bisher hatte niemand einen Verdacht geschöpft. Dass während meiner Abwesenheit wer weiß was passieren könnte, daran dachte ich gar nicht. Weder an plötzlichen Kindstod noch daran, dass das Baby von meinem Bett herunterfallen und sich die dünnen Knochen brechen könnte.
    Mit Scheuklappen irrte ich durch die Straßen und flehte fremde Menschen an, mir Geld zuzustecken. Hier und da gab es ein paar Euros. Manchmal spendierten sie mir einen Kaffee oder ein frisch belegtes Brötchen. Einige rümpften die Nasen und gaben mir das Gefühl, nichts wert zu sein.
    Ich stand über den Dingen. Das musste ich, weil ansonsten an meinem Elend zerbrochen wäre.
Eines Tages lief ich meinem Vater beim Betteln über den Weg. Er erkannte mich nicht. Ich spürte Erleichterung in mir, dass er an mir vorüber lief wie alle anderen, wenn ich sie nicht explizit auf eine Geldspende ansprach.
Auf der Straße lernte ich neue Freunde kennen. Niemandem von ihnen vertraute ich mein Geheimnis an. Ich erzählte wohl, dass ich auf Wohnungssuche und nach einem neuen Dealer sei, aber über mein Baby bewahrte ich eisernes Schweigen. Einer der Obdachlosen steckte mir eine Adresse zu.
    „Der Peter kann dir helfen. Der weiß immer irgendwo eine Wohnung.“
    „Und warum nimmst du keine in Anspruch?“, fragte ich verwirrt, während ich den Zettel einsteckte.
    „Für mich lohnt sich das nicht mehr. Aber du, du bist noch jung. Du brauchst ein Dach über dem Kopf.“
    „Aber ältere Menschen brauchen es doch noch viel nötiger. Sie frieren schneller, werden schneller krank als junge Leute“, sagte ich nachdenklich.
    „Ach, ich denke, ich habe sowieso nicht mehr lange. Jeden Tag nur Blut. Ich scheiße Blut, ich kotze Blut und ich verliere Blut aus allen Poren meines Körpers. Der Krebs hat seine Krallen über mich gelegt. Aber, ziere dich nicht, den Peter anzurufen. Bestell ihm einen schönen Gruß vom Erwin.“
    „Mache ich!“, versprach ich.

Der freundliche Peter verschaffte mir tatsächlich eine Wohnung. Und es gelang mir sogar, Sonja ungesehen aus der alten zu schaffen und sie in unserem neuen zu Hause einzuquartieren. Zwar saßen wir beide in leeren Zimmern, besaßen weder Bett, noch Fernseher, Kühlschrank und auch sonst hatten wir keinen Luxus vorzuweisen, weil ich mir finanziell nichts leisten konnte, aber das spielte zunächst keine Rolle. Möbel oder sonstiges anzuschaffen, das hätte Zeit und ich war mir sicher, irgendwann würde sich alles zum Guten wenden.
    Und immer, wenn mich jemand fragte, wie alt ich denn wäre, log ich für die magische 18, obwohl ich noch nicht mal siebzehn war.
    Um Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen, blieb mir nichts weiter übrig, als mich auszuziehen und meinen Körper an erwachsene Männer zu verkaufen.
Um in Ruhe meiner Arbeit nachzugehen, gab es für Sonja Beruhigungstropfen in das Fläschchen.
Stillen konnte ich die Kleine alleine wegen meines Jobs schon lange nicht mehr.
Die Freier könnten blöde Fragen stellen und sicherlich hätten sie es nicht gemocht, an den Brüsten einer Frau Milch zu nuckeln. Ich verkaufte meinen Körper auf der Straße. Des Abends zog ich los in meinen High Heels, in denen ich kaum laufen konnte. Mit rotgeschminkten Lippen, posierte ich im knappen Minirock an der berüchtigten Ecke.
    Die Männer standen Schlange bei mir. Sie bezahlten teure Zimmer und spendierten mir gutes Essen. Es ließ sich hervorragend leben. Von dem Geld kaufte ich Drogen und Lebensmittel. Später, als der Rubel rollte, schaffte ich auch die notwendige Wohnungseinrichtung an.
Sonja schlief wie ein Engel, wenn ich abends fortging.
Klar hatte ich ein schlechtes Gewissen, das Kind allein zu lassen. Und was für eins, aber ich hatte keine andere Wahl. Ohne Moos nichts los.

    Dieses Leben, tagsüber die treusorgende Mutti zu spielen und abends meinen Körper für ein paar Kröten an lustgeile Männer zu verkaufen, führte ich über mehrere Jahre.
Der Lebensstil zehrte an mir. Ich aß kaum noch, das Hungergefühl war wie abbestellt. 
Vorbei war es mit der Ausbildung und dem Traum einer Festanstellung im Büro oder in einer namhaften Firma, die mir ein sicheres Gehalt zahlte. Sonja blieb weiterhin mein Geheimnis. Als sie älter wurde, schrie sie kaum noch und das Beruhigungsmittel konnte ich des Abends, wenn ich wegging, getrost absetzen. Die Nächte schlief sie mittlerweile durch.
    Mit vier Jahren konnte sie sich hervorragend alleine beschäftigen. Ich hatte genügend Geld angeschafft, um ihr schöne Spielsachen zu kaufen und ich war so verdammt stolz darauf, dass ich es mir leisten konnte, meine Tochter allein zu versorgen. Das erste feuerrote Bobby Car, von meinem selbstverdienten Geld, ich feierte mich für die leuchtenden Kinderaugen, als ich Sonja durch den Flur unserer Wohnung schob!
    Immer wenn ich Zeit hatte, las ich der Kleinen Geschichten vor. So, wie meine Mutter es in frühen Zeiten meiner Kindheit getan hatte.
    Irgendwann sprach Sonja das erste Wort und ich war unbeschreiblich stolz, als sie Mama sagte.
Sonja lebte bisher ausschließlich in der Wohnung.
Das Tageslicht hatte sie bis zu ihrem sechsten Geburtstag nicht gesehen. Da sie es nicht anders kannte, stellte sie keine Fragen.
    Manchmal, wenn ich Besuch erhielt, der sich natürlich dauerhaft nicht vermeiden ließ, versteckte ich meine Tochter im Kleiderschrank. Mein Dealer und einige Freier kamen zu mir in die Wohnung. Manchmal auch der Vermieter und sogar meine Eltern meldeten sich für einen Besuch an, den ich jedoch dankend ablehnte.
Mein Vater redete von wegen Entschuldigung und von diesem ewigen, wertlosen Bla, bla, bla, auf das ich wirklich schiss. Mit ihnen wollte ich nichts mehr zu tun haben.
Sie kannten weder meine Adresse noch etwas über meine derzeitigen Lebensumstände und das sollte so bleiben. 

    Sonja blieb ohne einen Muckser von sich zu geben, im Kleiderschrank sitzen, bis ich sie dort herausholte.
    Sie versteckte sich, so wie ich mich als kleines Kind unter meinem Bett verkroch, wenn mein Vater mir die Ohren langziehen oder mich nackt sehen wollte.

    Mein Leben entglitt mir.
Ich merkte das sehr wohl, noch besaß ich allerdings genügend Kräfte, das Unheil zu verdrängen.
Die Schlinge um meinen Hals, zog sich nicht nur enger, sie nahm mir den Sauerstoff zum Atmen.
Sonja entwickelte sich nicht, wie sich andere Kinder in dem Alter entwickelten. Sie hing mit der Sprache und der Motorik deutlich hinterher. Sie konnte die Farben nicht unterscheiden und oftmals saß sie stumm am Fenster und blickte hinaus auf die Straße, auf der andere Kinder spielten.
    Mein eigenes Kind beraubte ich der Freiheit, dabei hätte ich längst mit Sonja hinausgehen und ihr die Welt zeigen sollen. Ich hätte ihr die Sonne gezeigt, den Himmel, die Wolken und am Abend die Sterne.
    Ich hätte mit ihr im Sommer ein Eis gegessen und am See die Enten mit Brotkrumen gefüttert. Im Winter hätten wir einen Schneemann gebaut, aber nichts dergleichen geschah. Ich lebte weiterhin wie bisher unter meiner Glasglocke.
    Mein Leben war auf einer einzigen Lüge aufgebaut, dessen Konstrukt von Ängsten, Hoffnungslosigkeit und Depressionen meinerseits getragen wurde.
    Wie hätte es anders sein sollen, ohne soziale Kontakte und ohne jeglichen Bezug zu der Welt dort draußen?
    Sonja hätte längst in den Kindergarten gehen müssen.
Die Uhr tickte.
Die Bombe würde zeitnah hochgehen.
Länger könnte ich dieses Spiel nicht mehr spielen und emotional würde ich es kein weiteres Jahr aushalten.
Bereits jetzt ging ich auf dem Zahnfleisch und gedrohte durchzudrehen.
    Ich überlegte mich einem Sozialarbeiter anzuvertrauen. Zum Jungendamt zu gehen und um Hilfe zu bitten, war auch noch eine meiner angedachten Möglichkeiten.
Doch je mehr ich darüber nachdachte, welchen Verbrechens ich mich schuldig gemacht hatte, desto unwohler wurde mir.
Die Schuldgefühle fraßen mich von innen heraus auf.
Das Einzige das mir half, wirklich half, waren meine Drogen. Sie verschleierten das Übel meiner kaputten, maroden Welt. In mir herrschte Krieg. Jeden Tag Krieg!
Lange genug hatte ich darüber nachgedacht, meinem und dem Leben meines Kindes ein Ende zu setzen.
Wir hätten springen können. Vom Dach des Hochhauses, in dem ich seit mehr als sechs Jahren wohnte und ein mieses Doppelleben führte. Wir hätten auch von einem anderen Dach springen können. Ich hätte mir und der Kleinen auch die Pulsadern aufschneiden oder uns mit Tabletten im Überfluss abschießen können.
Doch ich war zu feige.
Zu feige, unsere beiden Leben zu beenden.
    Außerdem hatte ich kein Recht über das Leben meiner Tochter zu entscheiden, schon gar nicht, über dieses zu bestimmen. Ihre freundlichen Kulleraugen, das herzliche Glucksen und ihre kindliche Neugierde, all das verzauberte mich noch immer wie vom ersten Tag ihrer Geburt. Ein Kind ist etwas sehr Wertvolles im Leben. Niemand hat das Recht, dieses zu zerstören. Weder durch Missbrauch noch durch Gewalt.  Doch, so wie mich mein Vater missbraucht hatte und auch Ben, verging ich mich an meinem eigenen Kind. Ich verwehrte ihm ein Leben, wie es von Gott zum Zeitpunkt der Geburt angedacht worden war. Mit diesem Vergehen konnte und wollte ich nicht länger leben.


 

Heroes

We can be heroes for just one day…
Mein Lieblingslied. Nur, dass ich nie die Queen sein durfte und sich auch kein King in mein Leben schleichen wollte.
Ein letztes Mal stand ich vor dem Spiegel meines Badezimmers. Schminkte meine Lippen blutrot. Zog den Minirock an und rückte meine Unterwäsche in Position. Ein letztes Mal hübschte ich mich für die Männerwelt auf.
Legte das teure Parfüm auf.
    Ein Glas Wodka spülte die letzten Zweifel hinunter.
Sonja hatte ich zum Schlafen in das Bett gelegt. Nachgeholfen mit Valium, damit sie die Augen vor dem nächsten Tag nicht öffnete.
Im Spiegel erkannte ich mich selbst nicht mehr.
Meine Augen glichen einem Stausee voller Traurigkeit. Meine Lippen verblasst, hatte sich das Leben in meiner Stirn eingegraben.
Meine Tage wuchtete ich schon lange nicht mehr mit eisernem Willen. Ich wünschte nur, sie würden etwas leichter werden.
    „Hast du es dir anders überlegt?“, fragte mich mein Spiegelbild.
    „Nein!“, antwortete ich.
Ich war süchtig nach Etwas, das es nie gegeben hatte.
Egal wie oft ich es auch versuchte, und egal was ich aus mir gemacht hatte, sie werden immer in mir sehen, was sie sehen wollen.
Und auch, wenn ihre Meinungen nie so hart wie Stein sind, sind sie doch oft in Stein gemeißelt.

Der letzte Fick. Die letzten zweihundert Euro Auslöse für ein dreckiges Geschäft. Ich steckte sie in meinen Ausschnitt.
Das Päckchen Schnee in meiner Handtasche.
Der Löffel und das Feuerzeug.
Die Nadel. Alles parat.
Die öffentliche Toilette.
Niemand kommt mehr her.
Alle wissen, wie dreckig es hier ist.
Und doch wird sich jemand am nächsten Morgen genau hier her verirren.
Wie ich.
Es sind die verlorenen Seelen die immer wieder zueinander finden.
Ein letztes Mal Fliegen…
Ein letztes Mal die Queen sein, die es nie gegeben hat.
Alles Illusion und der Trugschluss, den wir unser Leben lang mit uns herumschleppen, dass wir alles richtigmachen, nur, weil wir überhaupt irgendetwas machen.
Weil wir in Bewegung sind, denn Stillstand ist der Tod.
Und doch ist er das, wonach ich mich sehne.
Die Nadel ist schnell gesetzt.
Die Augenringe sind meine Zeugen.
Es endet hier, wo andere beginnen.
Für immer und immer…

We can be Heroes for just one day